Freizügigkeit hat in Europa derzeit keine Konjunktur

Brüssel · Auf dumpfe Reden, die die Realität verfälschen, haben Populisten kein Monopol; auch manche Vertreter von Volksparteien schrecken davor nicht zurück. Jüngstes Beispiel hierfür ist der britische Premier David Cameron.

"Die Freizügigkeit in Europa muss weniger frei sein", schrieb Cameron in einem Gastbeitrag für die britische Zeitung "Financial Times" und warnte vor "Sozialleistungstourismus". In dem Artikel kündigte er schärfere Kriterien für den Zugang zum britischen Sozialsystem für EU-Ausländer an.

So solle es für Neuankömmlinge ohne Job in den ersten drei Monaten keine Sozialleistungen geben. Cameron warnte vor Migrationsströmen aus Osteuropa, nachdem ab 2014 die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für Menschen aus Bulgarien und Rumänien gelten wird. Beide Länder gehören seit 2007 zur EU, doch eine Übergangsregelung schränkt bis Anfang 2014 den Zugang zum Arbeitsmarkt ein. "Wenn die Leute nicht hier sind, um zu arbeiten - wenn sie betteln oder im Freien schlafen -, dann werden sie entfernt", schrieb Cameron. Dabei betreibt er mit seiner provokant formulierten Ankündigung schlicht Fehlinformation: Denn genau das ist bereits EU-Recht. Ebenso wie kein Mitgliedstaat dauerhaft Sozialhilfe an arbeitslose Ausländer ausbezahlen muss.

Umso schärfer kam die Replik von EU-Justizkommissarin Viviane Reding. "Das Recht auf Freizügigkeit ist nicht verhandelbar", erklärte die resolute Luxemburgerin. Wenn Großbritannien aus dem Binnenmarkt austreten wolle, solle es das sagen. Die EU-Kommission reagierte völlig richtig, als sie daran erinnert, dass es Europa nicht "à la carte" geben kann, sondern nur als Menü: Wer von Freizügigkeit für Waren, Kapital und Dienstleistungen profitieren will, muss sie auch für Menschen zulassen. Wer günstige Produktionsbedingungen in Sofia oder Bukarest für seine Unternehmen nutzt, kann sich auch Bulgaren oder Rumänen nicht verschließen, die kommen, um zu arbeiten. Nicht zuletzt widerlegen die Zahlen die Warnungen vor Migranten aus dem Osten: Denn diese kommen mehrheitlich, um zu arbeiten, und nicht, um dem Gastland auf der Tasche zu liegen. Cameron wiederum, von den Euroskeptikern in seiner eigenen konservativen Partei und der rechtspopulistischen UK Independence Party, aber auch der Boulevardpresse unter Druck gesetzt, verbot sich am Rande des EU-Gipfels in Vilnius die Kritik aus Brüssel und setzte mit seinem Vorstoß offenbar auch auf Unterstützung anderer EU-Partner, vor allem aus Paris und Berlin.

Tatsächlich steht er mit dem Versuch nicht allein, die Verantwortung für ein Problem, wie es für viele die Einwanderung darstellt, auf "die in Brüssel" abzuschieben. In Frankreich, das kontrovers über den Umgang mit Roma diskutiert, hat Außenminister Laurent Fabius Bedenken gegenüber der Personenfreizügigkeit auch für Rumänen und Bulgaren geäußert und sich gegen einen Beitritt dieser Länder in den Schengen-Raum ausgesprochen. Im deutschen Koalitionsvertrag wird gefordert, "dass Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme verringert werden", unter anderem durch die "Ermöglichung von befristeten Wiedereinreisesperren". Freizügigkeit hat in Europa derzeit keine Konjunktur. Für die anstehenden Europa-Wahlen lässt dieser Trend nichts Gutes ahnen.

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