Cameron gegen ganz Europa

Ypern · Eigentlich soll es beim Gipfeltreffen in Ypern um die Ausrichtung der EU für die kommenden Jahre gehen. Am Ende dreht sich alles nur noch darum, den britischen Premier Cameron vor einer Blamage zu bewahren.

Als David Cameron am Meenenport in Ypern steht, gemeinsam mit den übrigen Staats- und Regierungschefs der EU, kennt er die Schlagzeilen des britischen Boulevards bereits. Das Mahnmal erinnert an die toten Soldaten aus allen Commonwealth-Staaten, die hier zwischen 1914 und 1918 ihr Leben ließen. "Geht ein Engländer 100 Jahre nach dem 'Großen Krieg' noch einmal unter?", fragen die Medien.

Der britische Premier scheint isoliert - mindestens 26 seiner Kolleginnen und Kollegen werden ihn am heutigen Freitagmittag im Stich lassen, wenn der EU-Gipfel über die Benennung des ehemaligen Luxemburger Regierungschefs Jean-Claude Juncker zum nächsten Kommissionspräsidenten abstimmen wird. Alle bis auf Cameron und Ungarns Premier Viktor Orban sind für den langjährigen Chef der Euro-Gruppe. "Ein solches Ergebnis wäre ein Tabubruch", gibt ein hoher EU-Diplomat in Ypern zu. Bei europäischen Gipfeltreffen ist sonst Einigkeit angesagt, selbst wenn der Lissabonner Vertrag bei Abstimmungen nur eine qualifizierte Mehrheit vorschreibt.

Der scheidende Ratspräsident Herman Van Rompuy hatte deshalb die Debatte über die inhaltlichen Schwerpunkte der nächsten fünf Jahre Brüsseler Diplomatie an den Anfang des Treffens gestellt, damit man "erst über Inhalte und dann über Personen" reden konnte. Aber auch schon dieses "informelle Gespräch" im Rathaus von Ypern bot gestern genügend Ansatzpunkte für Streit. Denn schließlich wollten die sozialdemokratischen Staats- und Regierungschefs - vor allem der Italiener Matteo Renzi und der Franzose François Hollande - mehr Spielraum beim Schuldenmachen. Der europäische Kompromiss sieht jetzt so aus: Der Stabilitätspakt wird zwar nicht aufgeweicht, dafür dürfen sie die dort bereits angelegte Flexibilität bis zur Schmerzgrenze ausschöpfen. Irgendwie schienen damit alle zufrieden.

"Wir können mit Großbritannien Kompromisse finden und auch ein Stück weit auf Großbritannien zugehen", versuchte Kanzlerin Angela Merkel gestern noch einmal die Tür für ein Umschwenken des britischen Premier in der Juncker-Frage zu öffnen. Angeblich saßen zeitgleich schon die Unterhändler der Mitgliedstaaten in Brüssel zusammen, um nach Möglichkeiten zu suchen, wie man einen "derart massiven Gesichtsverlust für Cameron" vermeiden kann. "Denn genau das wäre es, wenn er überstimmt würde", erklärte ein Mitglied der britischen Delegation. "Wer uns halten will, muss uns was geben." Das wissen auch die Kanzlerin und die übrigen Chefs - auch wenn sie es leid sind, "ständig erpresst" zu werden, klagte ein Gipfel-Teilnehmer. Dennoch: Anders als geplant wollen die Staatenlenker heute nur noch über die Personalie Juncker abstimmen und dann - im Juli - die übrigen Spitzenpositionen besetzen, wohl mit Personalien die Cameron gutheißen wird - es ist ein neues Angebot.

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