Neue Romane Ein Leben als „freies Elektron“ führen

Saarbrücken · Jean-Philippe Blondels wunderbarer Roman „Ein Winter in Paris“ hinterfragt auch das französische Bildungssystem.

 Jean-Philippe Blondel, 1964 in Troyes geboren, publizierte bereits neun Romane.

Jean-Philippe Blondel, 1964 in Troyes geboren, publizierte bereits neun Romane.

Foto: Cédric Loison/Zsolnay Verlag/Cédric Loison

Jean-Philippe Blondel entspricht nicht eben dem (hoffnungslos altmodischen) Klischee eines französischen Romanciers. Er lebt bis heute in seiner vergleichsweise provinziellen Heimatstadt Troyes im Nordosten Frankreichs – die Kernstadt hat gerade mal 60 000 Einwohner. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet Blondel dort an einem Gymnasium als Englischlehrer. Verheiratet und Vater dreier Kinder, schreibt er nebenbei Roman um Roman. „Ein Winter in Paris“ ist bereits der sechste von neun in Frankreich erschienenen, der nun ins Deutsche übersetzt wurde. Es ist ein hinreißender, fein beobachteter, intimer Roman – und fraglos eine der literarischen Entdeckungen dieser Herbstsaison.

Eigentlich hätte man Blondel längst kennen müssen – in Deutschland war sein vor vier Jahren erschienener Roman „6:41“ ein kleiner Bestseller. Eine kleine, große Liebesgeschichte, die von einem einstigen Liebespaar handelte, das sich eines Morgens zufällig im Vorstadtzug nach Paris wiederbegegnet, ohne dass beide sich einander zu erkennen geben. Peinlich berührt stumm nebeneinder sitzend, ziehen ihre Erinnerungen an das damalige Fiasko ihrer Beziehung im Geist an ihnen vorbei.

Wie autobiografisch dieser Roman war, weiß man nicht. Sein jüngster jedenfalls greift Erfahrungen auf, die Blondel in den 80er Jahren als aus der Provinz nach Paris kommender Student gemacht hat. Wie sein Ich-Erzähler, der 19-jährige Victor, versuchte sich Blondel dort in der „classe préparatoire“ einer Elitehochschule durchzubeißen. Und wie dieser wurde Blondel dort damals Zeuge eines Suizids. Im Roman heißt der Lebensmüde Mathieu und stürzt sich eines Morgens während des Unterrichts unvermittelt das Treppenhaus hinunter. Die Gründe von Mathieus Freitod herauszufinden, ist einer der roten Fäden, die Blondel seiner Geschichte eingesponnen hat. Anfangs fürchtet man, er wolle in „Ein Winter in Paris“ das soziologische Grundmuster von Didier Eribons Erfolgsbuch „Rückkehr nach Reims“ kopieren: Ganz ähnlich wie dort beschrieben, macht auch Blondels Victor – obschon er sich der elterlichen Kleinbürgerwelt lange entfremdet hat – die demütigende Erfahrung sozialer Disktinktion. Als aus einfachen Verhältnissen stammender Provinzler kennt er weder die bildungsbürgerlichen Zugangscodes an der Pariser Eliteschule noch vermag er seinen Kommilitonen in Habitus und Bildungshintergrund zu genügen. Victor gehört nicht dazu: Man ignoriert ihn. Dennoch leidet er nicht nur unter seinem Außenseitertum, er erkennt auch das Potenzial darin: „Ich war keinerlei Druck ausgesetzt, weder vonseiten von Freunden, einer Freundin noch von den Eltern. Ich war ein freies Elektron.“

Weil Mathieu, ebenso wie Victor kein Parisien, mit denselben Problemen kämpfte, hatten beide erste, zarte freundschafltiche Bande geknüpft, die der rätselhafte Selbstmord des ein Jahr Jüngeren abrupt zunichte macht. Mathieus Tod desavouiert die Scheinheiligkeit der Aspiranten der Pariser Grand Écoles, aus deren Reihen – im Roman nicht anders als im realen Leben – sich auf inzestiöse Weise bis auf den heutigen Tag die Führungskräfte in Politik, Wirtschaft und französischem Staatsapparat rekrutieren. Denn mit einem Mal wird Victor – diese persona non grata, die der einzige Vertraute des Toten war – für seine „Mitschüler“ interessant.

Blondel erzählt diesen subtilen, beständig Lebenslust und „Indian Summer“-Empfindungen mit Angst und Verunsicherung paarenden Adoleszenz-Roman in einem schwebenden Ton, der immer wieder an den französischen Großmeister der Melancholie, Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano, erinnern. Eribon, Modiano: Man könnte versucht sein, in Blondel lediglich einen begabten Kopisten zu sehen. Doch je länger man dieses lebensweise, klug komponierte Buch liest, desto mehr erliegt man seinem dann doch ganz eigenen Charme. Auf seiner Handlungsebene erweisen sich gleichermaßen Victors Begegnungen Victors mit Mathieus nach Paris reisendem Vater wie auch seine entstehende Freundschaft zu Paul Rialto, dem Jahrgangsbesten im Seminar, als die zwei Kernstücke des Romans: Mr. Lestaing wird nach und nach zu Victors väterlichen Freund, während sich mit Paul eine Verbindungstür in die Welt der Privilegierten für ihn öffnet. Wobei Blondel in beiden Fällen nie Gefahr läuft, bloße Abziehbilder zu zeichnen. Auf sublime Weise klingt in seinem Roman immer wieder die innere Zerrissenheit Victors an: die Wechselbäder zwischen Erprobungslust und Selbstbehauptung auf der einen Seite sowie Mutlosigkeit und eine Ahnung von der eigenen Bedeutungslosigkeit auf der anderen.

So lässt sich der Roman denn auch nicht nur als eine profunde Kritik an dem rigiden französischen Bildungssystem lesen, das nach Mathieus Tod schnell wieder zu seiner vorgeblichen Normalität zurückkehrt. Seine tieferreichende Qualität ist es, das Lebensgefühl einer Handvoll unterschiedlichster Menschen auf berührende Weise einzufangen und dafür eine Sprache zu finden, deren Klang und Bilderwelt über weite Strecken etwas Betörendes hat.

Dass Blondels Hauptfigur – nicht anders, als dies ihr Schöpfer in der Zeit tat, zu der „Ein Winter in Paris“ spielt – den Wunsch hegt, Romancier zu werden, ist nur eine von vielen darin ausgelegten autobiografischen Fährten. Ein Glück, dass Blondels Wunsch, Anfang der 2000er Jahre dann Realität geworden ist! Die Eleganz, Stilsicherheit und Schlichtheit seiner Prosa ist bemerkenswert. „Ich konnte das verkörpern, was die anderen von mir erwarteten“, meint Victor einmal. Blondel hingegen, diese Analogie sei in diesem Fall gewagt, vermag zu verkörpern, was man sich von einem guten Roman erwartet.

Jean-Philippe Blondel: Ein Winter in Paris. Aus dem Französischen von Anne Braun. Zsolnay Verlag, 189 Seiten, 19,90 €.

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