Literatur Das unmögliche Nettchen als früher „MeToo“-Fall

Saarbrücken · „Ey Sapperment“: Karen Duve erzählt in „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ von der Liebeskatastrophe der jungen Annette von Droste-Hülshoff.

 Karen Duve, hier mit dem Huhn Rudi, in einer Aufnahme von 2010. Ob Rudi heute noch lebt?

Karen Duve, hier mit dem Huhn Rudi, in einer Aufnahme von 2010. Ob Rudi heute noch lebt?

Foto: dpa/Patrick Pleul

Zuletzt machte Karen Duve ja mehr mit Pamphleten gegen Fleischfresser, Politiker, Wirtschaftsbosse und andere männliche Psychopathen von sich reden. Sie erklärte, wie man „Anständig essen“ kann und „Warum die Sache schief geht“. In ihrem Roman „Macht“ (2016) sperrte ein Widergänger von Josef Fritzl – der inzwischen verurteilte Österreicher hatte seine Tochter 24 Jahre lang in Amstetten im Keller eingesperrt – seine emanzipierte, intellektuell überlegene Frau in den Keller ein. Jetzt aber zeigt Duve, dass sie die Überlegenheit der von geistlosen Männern belächelten, misshandelten oder weggesperrten Frau auch literarisch ehrgeiziger und historisch genauer beschreiben kann: Sie dekliniert es am Beispiel von Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) durch.

Eigentlich ist ein katholisches Freifräulein aus dem Pumpernickelland Westfalen ja nicht unbedingt nach Duves Geschmack. Die „Seherfrau“ (Friedrich Gundolf) verwandelte, so die alte Lesart, Krankheit und stilles Leid, häusliche Pflichterfüllung und unerfüllte Liebe in schwermütige geistliche Lyrik und düstere Prosa. Duves‘ Droste nun ist eine vorlaute, nicht ganz salonfähige „Zauberjungfrau“, die keck in männliche Domänen eindringt. Mediziner, Dichter, Priester, selbst Nettes dumme Onkel glauben ja zu wissen: Die edelste Aufgabe der Frau liegt nicht im Denken oder Dichten, sondern im Gebären, in „Demut und Geduld“, Bescheidenheit und „anmutiger Schlichtheit“.

Nette will und kann nicht sticken, stricken, schweigen. Sie mischt sich mit ihrem dröhnenden Alt ungefragt ein, wenn große Männer das große Wort führen, fragt nach, widerspricht, scherzt, erlaubt sich eigene Meinungen und „unweibliche“ Empfindungen. Das „unmögliche Nettchen“ geht mit ihrem Berghammer mineralisieren, flirtet mit mehreren Männern zugleich und wagt sogar – natürlich nur poetisch-religiös verklausuliert – über ihre heimlichen Sünden zu schreiben. So etwas führt auf dem Land zwischen Hinnenburg, Höxel und Bökerhof unweigerlich zum Skandal.

Duve schildert die Zeit um 1820 mit sichtlichem Behagen. Sie hat, wie die zwölfseitige Literaturliste belegt, viel gelesen über Mode, Sprache, Sitten und Bräuche in Herrenhäusern, Kneipen und Universitäten und versammelt eine Reihe von Figuren der Zeit- und Literaturgeschichte: Annettes Onkel, Tanten und Nichten natürlich, aber auch Romantiker, angehende Minister, Bummelstudenten und Burschenschafter aus Göttingen, der junge Harry Heine und alle sechs Geschwister Grimm. Man trifft sich zu Duellen und Saufgelagen, poetischen Kränzchen, Diskussionsrunden und Märchenstunden, man lernt Wunderheilerinnen und den Driburger Badearzt Dr.Ficker kennen, die Männer rufen anerkennend „Ey Sapperment“ und „Deibel ock“, die Damen seufzen leise. Das alles ist sehr hübsch erzählt, ironisch-altbacken und doch lebendig.

Das unmögliche Mädchen lässt sich weder das männliche Reden noch das weibliche Schwärmen verbieten, nicht einmal den schrillen Gesang. Die Droste ist kränklich, glubschäugig, ein bisschen verrückt, aber die Männer mögen sie. Und sie die umgekehrt auch. Heinrich Straube, der als Genie verehrte, allzeit fröhliche, leider auch erschreckend hässliche und riechende arme Poet aus dem Göttinger Dichterhain, wird, auch weil er ihre Gedichte lobt („Sie schreiben wie ein Mann“), ihr „Herzensfreund“. Arnswaldt, ein fescher Jüngling aus altem Adel, hat noch andere Vorzüge. Konfessions- und Standesunterschiede, Stirnrunzeln im Familienrat und eine infame Männer-Intrige zerstören die zart keimende Liebe: Arnswaldt spielt seine versuchte Vergewaltigung als Liebestest herunter, Straube wendet sich gekränkt ab, Nette kommt nie über den doppelten Verrat hinweg.

Duve hält sich eng an die Fakten, aber sie nimmt sich auch die Freiheit, das verblasste Bild der Droste farbig aufzupolieren und leicht zu retuschieren. Männer und Frauen sprechen, immer durch die blaue Blume der Romantik hindurch, über Ausländerhass, Nationalismus, die verderbliche Schnellpost und zeitlose MeToo-Erfahrungen. Manchmal liest sich Duve wie Jane Austen aus dem hessischen Märchenwald, manchmal wie Alice Schwarzer im Biedermeierkostüm und manchmal auch eindeutig heutig: „Hätte, hätte, Epaulette“.

 „Fräulein nettes kurzer Sommer“ ist durch die zahlreichen Porträts und Verwandtenbesuche bei Tante Dorly und Herzensfränzchen etwas zu lang geraten, aber der historische Frauenroman hat Kopf und Herz und Witz: Ein widerspenstiges, nerviges Freifräulein, das genug hat von Geduld und anmutiger Einfachheit, bahnt sich mit spitzer Zunge, Feder und Hammer einen Weg ins Freie.  „Der Droste würde ich gerne Wasser reichen“, schrieb Sarah Kirsch einmal. Duve kann und tut es.

Karen Duve: Fräulein nettes kurzer Sommer. Galiani, 592 Seiten, 25 €.

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