„Substanz 18“ in Saarbrückens Alter Feuerwache Wie fremdbestimmt sind wir denn nun?

Saarbrücken · Das Saarbrücker Ballett-Ensemble choreografiert in „Substanz 18“ wieder eigene Tanzstücke – unterm Strich wird daraus ein sehenswerter Abend.

 Comic-Amazonen oder Comic-Spinnen? Szene aus der Auftakt-Choreografie „Supernova“ von Federico Longo.

Comic-Amazonen oder Comic-Spinnen? Szene aus der Auftakt-Choreografie „Supernova“ von Federico Longo.

Foto: Martin Kaufhold/SST/martinkaufhold.de

Jeder große Choreograf hat mal klein angefangen. Werden wir womöglich Zeugen eines aufgehenden Sterns? Das fragt man sich immer, wenn sich zum Saison­ende Tänzer des Staatstheater-Balletts an eigenen Tanzstücken versuchen. Die neueste, 18. Ausgabe von Substanz, die am Freitag in der Feuerwache Premiere hatte, kann sich sehen lassen. Auch wenn sich die Aussagen der acht Choreografien nicht immer ganz erschließen.

Deutlich wird aber: Die Nachwuchs-Choreografen machen sich viele Gedanken und trauen sich, existenzielle Fragen zu stellen, ohne vorschnelle Antworten zu geben. „In welcher Welt leben wir, wer bin ich?“ fragt etwa die Off-Stimme in „Mind the step“ von Louiza Avraam. Eine Flughafensituation mit hastenden Menschen („last call“) ist in ihrem Stück Ausgangspunkt, um in sich zu gehen. Sechs Frauen und Männer lösen sich aus der Menge, zeigen wunderschönen Hochtempo-Stress-Tanz zu Vivaldis „Sommer“, um dann bei Schuberts „Winterreise“ langsam runterzukommen. „Bin ich wirklich frei in meinen Entscheidungen, oder fremdbestimmt?“ Noch so eine Frage, die nicht nur diese, sondern auch die sechs Tanzenden in Edoardo Cinos „I am in a Room, different from the one you are now“ beschäftigt. Dieweil ein herumirrender Tänzer im weißen Tennisdress sich immer wieder mit suchendem Blick zum Publikum wendet, greift sein schwarz gewandeter Kollege zur Fernbedienung, um den Tanz der übrigen Truppe zu steuern. Oder sind es gar keine Menschen, sondern Androiden? So manchesmal endet hier ein Stück abrupt, während man sich als Zuschauer noch fragt: Wo sind wir hier und wie wird es aufgelöst?

In Dean Boscas „Inter-Echo“ sorgen Spielfilm-Dialoge und Badestrand-Lärm für eine akustische Meereskulisse, vor der die Tänzer in seltsamen rosa Tüll-Anzügen mitunter Schwimmbewegungen andeuten. In Marioenrico D‘Angelos „Baustelle“ gleiten wir von sanftem brasilianischen Bossa Nova hin zu Dancefloor-Beats. Bei ihm fällt besonders auf, dass die jungen Choreografen gern klassische Frau-Mann-Rollen und klassische Formationen wie den (heterosexuellen) Pas-de-deux hinter sich lassen. Bei ihm tanzen drei hier, drei dort und einer allein. Auf der Bühne kein Zentrum, überall ist was los. In Miguel Toros „2746:Poetry“ fühlt man sich wie beim Ritual einer Geheimgesellschaft. Nachdem vier mysteriöse Männer in Schwarz unter Strahlern im Halbkreis tanzen, wird ein weißes Liebespaar mit verbundenen Augen hereingeführt. Werden die zwei zarten, hilflosen Wesen den Abend wohl überstehen?

Entspannen darf man dafür in „Auf der %&!&? Wiese“: Die Amerikanerin Hope Dougherty lässt zwei Frauen und einen Mann in knallbunter Kleidung allerlei drollige Sachen mit einem grünen Kunstrasen anstellen und sich kleine Häuschen auf den Kopf setzen, während dazu Jukebox-Schnulzen spielen. Ein Seitenhieb auf den Traum vom Glück im Eigenheim? Dougherty punktet mit Komik. Alexandra Christian zieht in ihrer mit vier Tänzern gemeinsam entwickelten Choreografie eindeutig über Donald Trump her – oder „Rotten (verfaulte) Orange“ wie ihn seine Gegner nennen. Das hätte leicht schief gehen können. Tut es aber nicht. Aus dem Off-hören wir Trumps Original-Stimme: wie er über die viel zu durchlässige Grenze nach Mexiko schwadroniert und Journalisten abblockt, die unliebsame Fragen stellen. Auf die Bühne aber stellt Christian keinen Trump-Imitator, sondern lässt vier Tänzer(innen) vier verschiedene politische Haltungen verkörpern. Man sieht sie zwar, wie sie beiläufig auch mal Macho-Posen einnehmen, doch tanzen sie durchweg mit ironischer Distanz.

Eine rundum runde Sache gelingt zum Auftakt des Abends Federico Longo mit seiner „Supernova“, dem hellen Schein eines sterbenden Sterns. Seine vier Tänzerinnen wirken mit ihren schwarzen Arm- und Beinstulpen sehr sexy und geheimnisumwoben, eine Mischung aus Comic-Amazonen und -Spinnen. Sie bewegen sich zu metallischen Sägegeräuschen und sphärischen Klängen. Und auch hier fragt man sich: Sind wir in einem SciFi, werden sie fremdgesteuert?

 „Mind your step“ warnt Louzia Avraam in ihrer berückenden Choreographie.

„Mind your step“ warnt Louzia Avraam in ihrer berückenden Choreographie.

Foto: Martin Kaufhold/SST/martinkaufhold.de

Wieder am 19. und 24. Juni.

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