Sarrazin und die IQ-Frage

In seinem von einer wahren Obsession für Wissenschaftlichkeit geprägten Buch zeichnet Dieter E. Zimmer 100 Jahre einer Forschungsgeschichte nach, die sich in neuerer Zeit vor allem in den Vereinigten Staaten, aber auch in westeuropäischen Ländern abgespielt hat. In Deutschland hätten die meisten Forscher einen großen Bogen um die entscheidenden Fragen gemacht, so Zimmer

In seinem von einer wahren Obsession für Wissenschaftlichkeit geprägten Buch zeichnet Dieter E. Zimmer 100 Jahre einer Forschungsgeschichte nach, die sich in neuerer Zeit vor allem in den Vereinigten Staaten, aber auch in westeuropäischen Ländern abgespielt hat. In Deutschland hätten die meisten Forscher einen großen Bogen um die entscheidenden Fragen gemacht, so Zimmer. Die Messbarkeit nicht-physischer Eigenschaften der Menschen und die Frage, ob die kognitiven Fähigkeiten angeboren sind, habe vor dem belastenden Hintergrund der NS-Rassenideologie hierzulande keine Chance gehabt, erforscht zu werden.In einer ersten Stufe vollzieht Zimmer die Etappen der Intelligenzforschung nach. Zentraler Begriff für die quantitative Messung der Intelligenz eines Menschen ist der IQ. Dieser Intelligenzquotient wurde von William Stern, einem deutschen Psychologen aus einer assimilierten jüdischen Familie, 1912 erfunden. Die Verteilung der IQs einer hinreichend großen Zahl von untersuchten Personen folgt der von Gauß definierten Normalkurve.

Aus praktischen Gründen wird der Durchschnittswert des IQ mit 100 bezeichnet. Die glockenförmige, symmetrische Kurve hat bei diesem Durchschnittswert ihren Gipfel und flacht nach beiden Seiten stark ab. Intelligenzquotienten unter 70 (etwa zwei Prozent der Untersuchten) werden als geistige Behinderung, solche über 130 (ebenfalls etwa zwei Prozent) als hohe Intelligenz gewertet. In jeder hinreichend großen Gruppe wurden bei etwa 82 Prozent der mittlere IQ-Werte zwischen 80 und 120 gemessen.

Die ganze IQ-Forschung wurde von den Zweifeln an der Tauglichkeit schulischer Förderprogramme in den USA begleitet. Man wollte wissen, ob man mit schulischen Mitteln biometrisch messbare Intelligenz fördern könne. Später in seiner Studie stellt Zimmer eine große Übereinstimmung von biometrisch gemessenem IQ und den schulischen Leistungen etwa in der Pisa-Studie fest. Dass es gilt, den erwerbbaren Teil der Intelligenz durch bestmögliche Förderung in Elternhaus, Schule und gesellschaftlicher Umwelt besser zu fördern, stellt Zimmer im Übrigen nie in Frage.

Die IQ-Messungen führten zwangsläufig zur Frage nach der Erblichkeit von Intelligenz. Zimmer berichtet in bewundernswerter Knappheit und Deutlichkeit über vier Jahrzehnte Erblichkeitsforschung. Das war und ist bis heute im Wesentlichen empirische Forschung an ein- und zweieiigen Zwillingen, an Adoptivkindern, an Heimkindern. Immer ging es darum, die ererbten Anteile der Intelligenz von den in der Umwelt (Erziehung, soziales Milieu, Sprache etc.) erworbenen zu trennen. In Zukunft werde die Genforschung wahrscheinlich naturwissenschaftliche Antworten auf diese Frage geben können, so der Wissenschaftsjournalist.

Zimmer referiert den Stand der Forschung und bezeichnet ihn als nach heutigem Erkenntnisgrad gesichert: Mehr als drei Viertel der biometrisch messbaren Intelligenz muss als erblich angelegt angesehen werden, der Rest ist erworben. Zimmer leitet das anhand von zahlreichen Forschungsergebnissen aus verschiedenen Ländern ab. Er führt dabei - immer allgemeinverständlich bleibend - in manche Geheimnisse der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung ein, betont immer wieder den Unterschied zwischen Korrelationen und Kausalitäten.

Seine Zuspitzung erfährt das Buch in der Frage, ob es nationale Unterschiede sowohl bei der Erblichkeit als auch bei der gemessenen Intelligenz gibt. In hierbei typisch deutscher Befangenheit gibt Zimmer kein eigenes Urteil ab, sondern zitiert ausgewählte Vertreter beider Auffassungen. An dieser Stelle setzt er sich mit den von ihm als widersprüchlich bezeichneten Thesen Thilo Sarrazins auseinander. Er hält dessen Ausführungen über die Erblichkeit des IQ für nebulös und die über ein "jüdisches Gen" - für hohe Intelligenz nämlich - für ein "gefährliches Impromptu". Ob es politisch vertretbar oder wünschenswert sei, mit einer gezielten Migrationspolitik gleichsam IQ zu "importieren" und damit den "exportierenden" Gesellschaften zu entziehen, diskutiert Zimmer nicht. Ihm geht es ausschließlich um die Darstellung des Forschungsstandes.

Dieter E. Zimmer: Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung.

Rowohlt, 321 Seiten, 16,95 €

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