Hartz-IV-Kürzungen Wie streng darf der Sozialstaat sein?

Saarbrücken/Karlsruhe · Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger rechtmäßig sind. Experten im Saarland begrüßen den Schritt.

 Ein Fall für Justitia: Das Bundesverfassungsgericht befasst sich ab morgen mit der Frage, ob als Strafe Hartz-IV-Kürzungen rechtmäßig sind.

Ein Fall für Justitia: Das Bundesverfassungsgericht befasst sich ab morgen mit der Frage, ob als Strafe Hartz-IV-Kürzungen rechtmäßig sind.

Foto: dpa/Volker Hartmann

Als der Brief vom Jobcenter kommt, eskaliert die Geschichte, die Wolfgang Edlinger ein „Drama“ nennt. Der Vorsitzende der Saarländischen Armutskonferenz erzählt sie als Beispiel dafür, „warum die Sanktionen bei Hartz IV abgeschafft werden müssen“. Es ist die Geschichte von S., 19 Jahre, Probleme in der Familie, die von Hartz IV lebt. Nach abgebrochener Lehre macht sie eine Maßnahme beim Jobcenter, zur Berufsfindung. Weil es mit einer neuen Lehre weiter nicht klappt, soll sie einen zweiten Kurs machen. „Mit dem gleichen Inhalt“, sagt Edlinger, „das sah sie nicht ein“. S. bricht ab, die Strafe folgt per Brief: Die Behörde kürzt ihren Regelsatz um zehn Prozent, rund 30 Euro weg aus der Haushaltskasse. Die Eltern toben. Und S. hat genug. Zieht aus. Eine eigene Wohnung zahlt das Jobcenter nicht, bei Freunden „stört“ sie bald. „Und dann passiert, was man sich denken kann“, sagt Edlinger. S. lernt Männer kennen, kommt bei ihnen unter – für eine Gegenleistung. Es endet mit Schwangerschaft, Abtreibung, Sackgasse.

S. ist abgestürzt aus dem Sozialstaat. Und schuld ist nur Hartz IV? Dass das zu einfach ist, wissen auch Kritiker wie Edlinger. Aber sie beklagen einen „falschen Ansatz“ im System der staatlichen Grundsicherung, das soziale Problemlagen zu wenig berücksichtige. Zu wenig fördere, auch abseits des „ersten“ Arbeitsmarkts. Sanktionen nennt der langjährige Sozialarbeiter Edlinger einen „Kardinalfehler“. Vor allem für junge Menschen sei die „überalterte Pädagogik der Strafe“ verheerend, schon eine geringe Kürzung könne bei Einkommensnot zum „Drama“ werden. Sanktionen führten „nie zur Einsicht, sondern nur zu Wut“, zumal das Gefühl der „Schikane“ entstehe. Daher blickt der Chef des Vereins, der Armen eine Stimme gibt, mit Spannung auf Dienstag – nach Karlsruhe.

Dort verhandelt das Bundesverfassungsgericht, ob Kürzungen für Empfänger von Arbeitslosengeld II, wenn sie ihren Pflichten nicht nachkommen, dem Grundgesetz widersprechen. Ja, meint das Sozialgericht Gotha und wies den Fall zur Prüfung nach Karlsruhe. Begründung: Das menschenwürdige Existenzminimum, das Hartz IV sichern müsse, werde durch Kürzung unterschritten, was verfassungswidrig sei. In einem Urteil, das erst in einigen Monaten erwartet wird, sieht Edlinger „einen wichtigen Schritt, der hoffentlich zu einem Umdenken führt“. Nicht nur sein Verein und andere soziale Organisationen wollen die Strafen abgeschafft sehen, auch politisch stehen sie zur Debatte, im Rahmen einer Hartz-IV-Reform. Das Gericht könnte hierzu Fakten schaffen.

Geklagt hat ein Mann aus Erfurt, dem das Jobcenter die Leistung gekürzt hatte, weil er Jobangebote abgelehnt hatte – erst um 30, dann um 60 Prozent (der Regelsatz für Singles liegt bei 424 Euro, hinzu kommen Leistungen etwa für Wohnen). Die Kürzung ist – bis dato – durchaus rechtens. Wer Arbeitslosengeld II bezieht und arbeitsfähig ist, muss daran mitwirken, Arbeit zu finden. Er muss zu Terminen kommen, Angebote annehmen. Tut er das nicht, ohne wichtige Gründe, kann das Jobcenter für in der Regel drei Monate Leistungen kürzen. Um zehn Prozent, bei Wiederholung stufenweise bis zur vollen Kürzung, bis zum Verlust der Wohnung. Für Unter-25-Jährige gelten strengere Regeln, ihnen drohen gleich höhere Kürzungen.

Das Prinzip: Hilfe, aber mit Eigenbeteiligung. Sozialstaat mit Strenge. Ob und wie es auch anders gehen könnte, beschäftigt auch die Politik, nicht nur die SPD. Arbeitsminister Hubertus Heil will zumindest schärfere Sanktionen für junge Menschen abschaffen – ebenso wie der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele. Sanktionen – oder Hartz IV – komplett kippen, wie andere fordern, wollen beide nicht. „Es braucht für eine sehr geringe Zahl von Menschen ein Instrumentarium, damit sich ein Vermittler durchsetzen kann und nicht zum Bittsteller gegenüber demjenigen wird, der eine staatliche Leistung bezieht“, sagte Scheele jüngst im SZ-Interview.

Für den Sozialverband VdK Saarland sind Gegenleistungen „unstreitig“. Sanktionen seien allerdings nicht geeignet und „nicht zielführend“. Statt „bürokratischer Vorladungen“ seien etwa „sozial-integrative Herangehensweisen“ für eine „passgenaue Unterstützung“ nötig, sagt Landeschef Armin Lang.

Rein statistisch gesehen ist das Problem der Sanktionen klein. Gemessen an allen erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfängern liegt die Sanktionsquote bei nur 3,1 Prozent. Rund 953 000 Sanktionen meldete die Arbeitsagentur für 2017, etwas mehr als 2016. Im Saarland lag die Quote demnach bei 2,5 Prozent, es gab 10 608 Sanktionen, davon 3153 für Unter-25-Jährige. Betroffene, die sich wehrten, verzeichnet die Behörde auch. 2018 gab es im Saarland 141 Widersprüche und 58 Klagen vor dem Sozialgericht.

Einer, der auch dort im Sinne seiner Mandanten immer wieder gegen Sanktionen kämpft, ist Rechtsanwalt Marco Loch aus Saarbrücken. Auch er sieht Reformbedarf. Zuweilen sanktioniere die Behörde vorschnell und „ohne Beachtung der Verhältnismäßigkeit“, kritisiert der Jurist. „Im Gesetz müsste klarer geregelt sein, dass Jobcenter nur dann sanktionieren dürfen, wenn sich Leistungsempfänger mutwillig einer Förderung verweigern.“ Er wünsche sich, dass Karlsruhe dies enger fasst und der Gesetzgeber nachbessern muss.

Wolfgang Edlinger von der Armutskonferenz hofft, dass ein Urteil – 14 Jahre nach dem Start von Hartz IV unter SPD-Kanzer Gerhard Schröder – eine „andere Blickrichtung“ eröffnet. Das „Hartz-IV-Menschenbild des Faulenzers“ müsse überwunden werden. Hin zu „Ressourcen“ statt „Sanktionen“. Hoffnung hat Edlinger auch für die junge S. Sie habe eine „stabile Partnerschaft“ gefunden, was sie vielleicht motiviere. Dazu, es noch einmal zu versuchen mit dem Weg ins Leben – auch mit Hilfe des Jobcenters.

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