Von Wahrheit, Mut, Freiheit - und LeistungGeprägt von der Einschränkung der Rechte

Joachim Gauck ist beliebt und anerkannt. Aber es gibt auch Äußerungen von ihm, die umstritten sind. So nannte der Kandidat für Schloss Bellevue Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" mutig, die Occupy-Bewegung und die Kritik an der Finanzwelt bezeichnete er als "unsäglich albern"

Joachim Gauck ist beliebt und anerkannt. Aber es gibt auch Äußerungen von ihm, die umstritten sind. So nannte der Kandidat für Schloss Bellevue Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" mutig, die Occupy-Bewegung und die Kritik an der Finanzwelt bezeichnete er als "unsäglich albern". "Es schwächt die Schwachen, wenn wir nichts mehr von ihnen erwarten", war auch so ein Satz, der nicht jedem im politischen Berlin gefiel. Joachim Gauck wird kein einfacher, kein bequemer Präsident sein. Das steht fest. "Der hat einen eigenen Kopf, eine eigene Wahrnehmung", so SPD-Chef Sigmar Gabriel über den 72-Jährigen.Wo steht Gauck? Der gebürtige Rostocker hat sich stets als überparteilich gesehen, als Ermutiger der Menschen, als einer, der zeigen kann, "dass der Staat nicht nur der Staat derer ist, die den Staat machen". Also nicht nur der Parteien. Wenn der ehemalige Pfarrer daher über Demokratie und Freiheit redet, klingt das immer geschliffener und intellektueller als Worte der Spitzen von Koalition und Opposition. Besserwisserisch sei er, sagen dann die einen. Er habe einen großen Hang zur Eitelkeit. Erleuchtend und wohltuend finden hingegen die anderen Gaucks Reden. Diese Leute sind bisher in der Mehrheit.

Politiker "fürchten sich vor der Wahrheit und glauben, dass die Bevölkerung die Wahrheit nicht verträgt", meinte Gauck vor zwei Jahren. Wahrheiten scheut Gauck nicht. Er wird nerven: die Bürger, von denen er erwartet, dass sie aus "der Hängematte der Glückserwartung durch Genuss und Wohlstand aufstehen". Für die Demokratie, für das Land. Aber er wird von Schloss Bellevue aus auch die Parteien nerven, sie antreiben, ihnen widersprechen, egal welcher Couleur. "Diejenigen, die auch riskieren, nicht wiedergewählt zu werden, die ziehe ich vor", lautet Gaucks Anspruch an die Politik. Der "debattenfähige Teil der Bevölkerung" erwarte schließlich, "dass Politiker auch mal mutig sind".

Wahrheit, Mut, Freiheit, aber auch Leistung, das könnten die prägenden Begriffe der Präsidentschaft Gaucks werden. Seine Haltungen speisen sich aus seiner erheblichen Lebenserfahrung, von Krieg und NS-Diktatur über die DDR-Diktatur bis zur friedlichen Revolution 1989 und die Aufarbeitung der deutsch-deutschen Geschichte als Chef der Stasi-Unterlagenbehörde. Er muss nichts mehr fürchten. Eine Erfahrung, über die Polit-Karrierist Christian Wulff nicht verfügt hat - das kann man dem Niedersachsen nicht vorwerfen. Aber aus diesem Grund dürfte Joachim Gauck beharrlicher und trotziger sein als Horst Köhler und untadeliger als Wulff. Schon jetzt ist außerdem sicher, dass Gauck sich inhaltlich öfter in die Nesseln setzen wird. Bei seiner Kür bat er schon mal um Langmut. In der SPD hofft man, dass er wenigstens bis zur Wahl keinen Auftritt hinlegt, der Debatten auslösen könnte.

Angela Merkel hat ihn nicht gewollt. Vielleicht auch, weil Gauck viel konservativer und bürgerlicher ist als Merkel selbst. Sie, die präsidiale Kanzlerin, ahnte wohl auch, wie lästig Gauck als Staatsoberhaupt sein wird. Das Verhältnis beider ist aber weniger angespannt als die Dramatik der Kandidatenkür vermuten lässt. Dass Merkel ihn 2010 abgelehnt hat, war reine Parteitaktik. Und diesmal wollte sie diesen vielleicht größten Fehler ihrer Kanzlerschaft partout nicht einräumen. Beide schätzen sich sehr. Merkel hat an Gaucks 70. Geburtstag vor zwei Jahren die Festrede gehalten. Es war eine Hommage. Sie erweise ihm gerne die Reverenz, denn Gauck habe sich "in herausragender und unverwechselbarer Weise" um das Land verdient gemacht. Das war aufrichtig und ehrlich. Beide werden bald regelmäßig die Dinge diskutieren, die die Republik bewegen.

"Ich sehe mich als Bürger, der mitredet", hat Gauck unlängst betont. Genau das will er bleiben. Berlin. Die zweite Chance zum Einzug in Schloss Bellevue hatte Joachim Gauck kaum mehr erwartet. Er hatte am Sonntag Termine in Wien. "Ich bin noch nicht einmal gewaschen", bekundete der 72-Jährige am Sonntagabend freimütig bei der Pressekonferenz im Bundeskanzleramt.

Biografie und deutsche Geschichte gehen bei dem evangelischen Theologen Gauck, der das Ende des Zweiten Weltkrieges als Fünfjähriger erlebt hat, Hand in Hand. Der Kandidat für das höchste Amt im Staat hat die Einschränkung persönlicher Freiheit am eigenen Leib erlebt. 1951 wird sein Vater vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und für vier Jahre in ein Arbeitslager nach Sibirien verschleppt. Das Erlebnis prägt Gaucks Haltung zur DDR. Er wird Pastor und wählt damit einen Beruf, der ihn in Distanz zur staatlichen Doktrin leben lässt. In seiner Geburtsstadt Rostock wird er, der nie einer oppositionellen Gruppe angehört hat, im Herbst 1989 zu einem der Köpfe des kirchlichen Protests.

Kein eingefleischter Politiker

Der parteilose Gauck ist kein eingefleischter Politiker. Zwar kandidiert er 1990 für das "Bündnis 90" bei der ersten freien DDR-Volkskammerwahl. Als Abgeordneter leitet er später den Parlamentsausschuss zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, schließlich wird er zum ersten Beauftragten für die Stasi-Unterlagen berufen - und leitet die quasi nach ihm benannte Gauck-Behörde bis 2000.

In den vergangenen Jahren war Gauck, der seit 1991 getrennt von seiner Frau lebt und vier erwachsene Kinder hat, vor allem als Vortragsreisender in Deutschland unterwegs. Er referierte beispielsweise über die deutschen Verhältnisse in Ost und West. Themen für den Vorsitzenden des Vereins "Gegen das Vergessen - Für Demokratie" sind allerdings immer wieder auch die Verbrechen der NS-Diktatur und das Demokratiebewusstsein in Deutschland. epd

"Der hat einen eigenen Kopf, eine eigene Wahrnehmung."

SPD-Chef Sigmar Gabriel über Joachim Gauck

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Hintergrund

Joachim Gauck soll am 18. März zum neuen Bundespräsidenten gewählt werden. An diesem Tag tritt die 15. Bundesversammlung im Berliner Reichstagsgebäude zusammen. Der 18. März fällt auf einen Sonntag. Das Datum ist zugleich der letztmögliche Termin nach dem Rücktritt des bisherigen Amtsinhabers Christian Wulff für die Neuwahl des Präsidenten. Da nur die Linkspartei Gauck nicht unterstützt, dürfte er von einer übergroßen Mehrheit der 1240 Mitglieder der Bundesversammlung schon im ersten Wahlgang gewählt werden. epd/red

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