"Schwerer Schlag gegen die Demokratie"

Istanbul. Als sich Istanbuler Staatsanwälte vor wenigen Tagen eine von der Polizei festgenommene Terror-Verdächtige im Verhör vorknöpften, fragten sie nicht nach Bombenbau oder Selbstmordattentätern. Sie interessierten sich für die Notizen für einen wissenschaftlichen Vortrag. Die Verdächtige, die Politologin Büsra Ersanli, hatte den Begriff "Bürger der Türkei" notiert

Istanbul. Als sich Istanbuler Staatsanwälte vor wenigen Tagen eine von der Polizei festgenommene Terror-Verdächtige im Verhör vorknöpften, fragten sie nicht nach Bombenbau oder Selbstmordattentätern. Sie interessierten sich für die Notizen für einen wissenschaftlichen Vortrag. Die Verdächtige, die Politologin Büsra Ersanli, hatte den Begriff "Bürger der Türkei" notiert. Warum, so fragten die Staatsanwälte laut Presseberichten, habe sie nicht die Wendung "türkischer Bürger" benutzt? Man könnte das für einen Witz halten, aber es ist bitterer Ernst. Die Professorin wurde mit mehr als 40 anderen Verdächtigen in Untersuchungshaft gesteckt. Vorwurf: Unterstützung für die kurdische Terrororganisation PKK. Zu den Verhafteten gehört auch der Verleger Ragip Zarakolu, der immer wieder Scherereien mit der Justiz hat, weil die Bücher seines Hauses unangenehme Thesen zur Kurden- und Armenierfrage aufwerfen.Ersanli, Zarakolu und die anderen wurden im Zuge von Ermittlungen gegen die Organisation "Union der kurdischen Gemeinschaften" (KCK) verhaftet. Die Justiz sieht in der KCK ein Werkzeug der PKK, mit dem die Rebellen mit dem Ziel einer kurdischen Autonomie unter anderem eine eigene Verwaltung und Gerichtsbarkeit aufbauen wollen. Nach Regierungsangaben wurden seit Beginn der Ermittlungen vor zwei Jahren rund 500 KCK-Verdächtige verhaftet. Kurdenpolitiker sagen, die Regierung wolle Gegner mundtot machen.

Aus Sicht des türkischen Reformlagers sind die Verhaftungen ein Alarmzeichen. Rund 700 türkische Intellektuelle protestierten in einer Erklärung gegen das Vorgehen der Justiz - sie befürchten, dass sich ihr Land zu einem Polizeistaat entwickelt, in dem demokratische Errungenschaften der EU-Reformen im Namen der Terrorismusbekämpfung rückgängig gemacht werden. "Ein schwerer Schlag gegen die Demokratisierung" seien die jüngsten Verhaftungen, erklärten die Intellektuellen. Was in Istanbul geschehen sei, gehe weit über die Grenzen der Verbrechensbekämpfung hinaus, sagte der Politologe Cengiz Aktar der SZ. "Die Verhaftungen zielen direkt auf die Meinungsfreiheit." Strafbare Propaganda für die PKK liegt aus Sicht der Staatsanwaltschaft offenbar schon vor, wenn eine Politologin die Wendung "Bürger der Türkei" benutzt. Sie deutet an, dass Kurden und andere Minderheiten unter dem Dach der türkischen Staatsbürgerschaft ihre eigene Identität haben, und dass in der Türkei eben nicht nur Türken leben. Die Justiz sieht dadurch die Einheit des Landes gefährdet.

Unter dem Druck der Proteste denkt die Regierung jetzt über Gesetzesänderungen nach. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan stärkte der Juztiz im Fall der Professorin Ersanli aber den Rücken. Es sei zwar kein Verbrechen, eine Vorlesung zu halten. "Aber es kommt darauf an, was man in der Vorlesung sagt."Foto: MacDougall/afp

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