Revolution unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Tripolis/Madrid. Die Lage gerät zunehmend außer Kontrolle: Die Demonstrationen gegen das Regime von Diktator Muammar al-Gaddafi (68) in Libyen sind auf fast alle Städte im Osten und Westen des Landes übergesprungen. Auch am Freitag kam es zu schweren Unruhen. Etliche Regierungsgebäude standen in Flammen

 Gadaffi-Anhänger bejubeln öffentlich den Herrscher, die Proteste werden totgeschwiegen. Foto: dpa

Gadaffi-Anhänger bejubeln öffentlich den Herrscher, die Proteste werden totgeschwiegen. Foto: dpa

Tripolis/Madrid. Die Lage gerät zunehmend außer Kontrolle: Die Demonstrationen gegen das Regime von Diktator Muammar al-Gaddafi (68) in Libyen sind auf fast alle Städte im Osten und Westen des Landes übergesprungen. Auch am Freitag kam es zu schweren Unruhen. Etliche Regierungsgebäude standen in Flammen. Die Polizei schoss vielerorts mit scharfer Munition auf die Menschen, zivile Gaddafi-Milizen stachen mit Messern auf Regimegegner ein. Die Opposition berichtet über Dutzende Tote und hunderte Verletzte: Die Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch (HWR) dokumentierte bisher 24 Todesopfer. Die in London erscheinende Oppositionszeitung "Libya Al Mostaqbal" sprach von 75 Toten. Doch die wirkliche Zahl der Opfer könnte noch größer sein - zumal die bürgerkriegsähnlichen Kämpfe weitergehen.

Protestzentren im Osten

Auf Amateurvideos im Internet sieht man Tote auf den Straßen und Menschen, die im Kugelhagel zusammensinken. Die Informationsbeschaffung ist schwierig, da Gaddafi mit einer eisernen Nachrichtenblockade das Drama totschweigen will: Libyens Journalisten dürfen über die Unruhen kaum berichten, ausländische Berichterstatter werden nicht ins Land gelassen. Internet, Telefon und Strom wurden vielerorts abgeschaltet. Vor allem über den Kurzmitteilungsdienst Twitter und durch Handy-Videos auf der Plattform Youtube versuchen Regimegegner, dutzende kleine Revolutions-Szenen in die Welt zu senden - solange es noch geht. Gaddafis Geheimdienst macht Jagd auf jene, die "staatsfeindliche Aktivitäten" ausüben. Dutzende Regimegegner sollen festgenommen worden sein, nachdem sie öffentlich über die Lage in ihrer Stadt berichtet hatten.

Libysche Polizisten "beschossen und töteten die Demonstranten, um die Proteste aufzulösen", berichtete Human Rights Watch. Die schlimmsten Massaker gab es offenbar in den beiden Großstädten Bengasi (700 000 Einwohner) und Al Bayda (300 000 Einwohner) an der östlichen Küste des Landes. Ärzte des Krankenhauses Al Bayda setzten via Twitter Notrufe ab. "Wir brauchen dringend Medikamente und Verbandsmaterial, helft uns bitte." Die Beerdigungen der Opfer in Al Bayda verwandeln sich in immer neue Demonstrationen, auf denen die Menschen skandieren: "Nieder mit dem Regime. Gaddafi, hau ab." Ähnliche Szenen spielen sich im 200 Kilometer entfernten Bengasi ab, wo seit Tagen Zehntausende für ein Ende der Gaddafi-Diktatur demonstrieren. Bengasi und Al Bayda sind schon immer die Zentren der Opposition gewesen, weil die dortigen Stämme Gaddafi nicht unterstützen und deswegen mit der Verweigerung von bitter notwendigen Investitionen bestraft wurden.

Gaddafi lässt sich feiern

In der schwer bewachten Hauptstadt Tripolis (1,6 Millionen Einwohner) kam es bisher nur zu kleineren Anti-Gaddafi-Protesten. Dort sorgt die Propaganda-Maschine des libyschen Despoten dafür, dass die erwünschten staatstragenden Jubelbilder in die Welt flimmern: Gaddafi höchstpersönlich gönnte sich ein öffentliches Bad in der Menge, unter den Anhängern seiner "Volksherrschaft".

Die libysche Zeitung "Al-Watan" meldete derweil, dass der Gaddafi-Spross Al-Saadi, der eigentlich Fußball-Profi ist, im rebellischen Osten die vernachlässigte Infrastruktur auf Vordermann bringen soll. Sein jüngerer Bruder Mutasim Billah steuert derweil als Chef des nationalen Sicherheitsrates die blutige Niederschlagung des Aufstandes.

Der größte Hoffnungsträger des Westens, Gaddafi-Sohn Saif al-Islam, ist hingegen von der Bildfläche verschwunden. Er war immer wieder für Demokratisierung eingetreten und hatte sich als Vermittler zwischen der arabischen und der westlichen Welt eine gewisse Achtung erworben. Er gilt als der einzige im Gaddafi-Clan, der kein Blut an den Händen hat. Doch falls Gaddafi den Kampf mit dem Volk tatsächlich verlieren sollte, dürfte wohl gleich die ganze Herrscherfamilie verjagt werden.

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Von SZ-MitarbeiterRalph Schulze

 Gadaffi-Anhänger bejubeln öffentlich den Herrscher, die Proteste werden totgeschwiegen. Foto: dpa

Gadaffi-Anhänger bejubeln öffentlich den Herrscher, die Proteste werden totgeschwiegen. Foto: dpa

Schon seit Wochen hatten die Libyer mit großer Aufmerksamkeit die Umstürze bei ihren beiden Nachbarn in Tunesien und Ägypten verfolgt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Funke auf Libyen überspringen und dort einen Flächenbrand auslösen würde. Eine Straßenrevolution, die es angesichts der bekannten Skrupellosigkeit Muammar al-Gaddafisfreilich schwerer haben wird, zum Ziel einer besseren Zukunft zu gelangen. Im Land eines Herrschers, der als Schurke berüchtigt ist. Und doch von westlichen Regierungschefs als Staatsmann hofiert wird - weil Gaddafi auf den größten Erdölvorkommen Afrikas sitzt, von denen auch die EU ziemlich abhängig ist. Doch eines steht jetzt schon fest: Ohne spürbare politische und wirtschaftliche Reformen dürften früher oder später die Tage des "Revolutionsführers" gezählt sein.

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