Irrungen und Wirrungen des Genossen aus Neunkirchen

Berlin. Eigentlich hätte alles so einfach sein können: "100 Milliarden hätten uns schon genügt, um aus der DDR ein Paradies für alle Werktätigen zu machen", schreibt Erich Honecker. Natürlich meint er 100 Milliarden West-Mark

 In der Heimat: Der gebürtige Neunkircher Erich Honecker (l.) besuchte im September 1987 - zwei Jahre vor dem Mauerfall - das Saarland. Ministerpräsident Oskar Lafontaine empfing ihn. Foto: Hartung

In der Heimat: Der gebürtige Neunkircher Erich Honecker (l.) besuchte im September 1987 - zwei Jahre vor dem Mauerfall - das Saarland. Ministerpräsident Oskar Lafontaine empfing ihn. Foto: Hartung

Berlin. Eigentlich hätte alles so einfach sein können: "100 Milliarden hätten uns schon genügt, um aus der DDR ein Paradies für alle Werktätigen zu machen", schreibt Erich Honecker. Natürlich meint er 100 Milliarden West-Mark. Aber "die Helden im Politbüro", merkt er höhnisch an, mussten ja in jenen bewegten Novembertagen des Jahres 1989 mit "ihrem famosen Beschluss" der "Konterrevolution den Weg" öffnen. "Jetzt fehlt die Partei - sie ist nicht mehr da." Armer Erich.Es ist der 26. Oktober 1992, als Erich Honecker das schreibt. Die Mauer ist vor drei Jahren gefallen, Deutschland wiedervereint, und der ehemalige SED- sowie Staatschef der Deutschen Demokratischen Republik sitzt seit Juli hinter Moabiter Gittern in Untersuchungshaft. Fünfeinhalb Monate verbringt Honecker in der Berliner JVA, wo er über 400 handschriftliche Seiten verfasst. Er ist schon 80 Jahre alt und sehr krank. Leberkrebs. Die Tagebuch-Notizen sind jetzt als Buch erschienen. Der Text mit dem Titel "Letzte Aufzeichnungen" ist eine Mischung aus persönlichen Gedanken, politischer Abrechnung, Irrungen und Wirrungen. Anlass der Veröffentlichung ist Honeckers 100. Geburtstag, der am 25. August gewesen wäre.

Honecker wähnt sich damals in Gefahr. "Jetzt fängt alles wieder von vorne an, vielleicht hat der dritte Weltkrieg schon begonnen." Und er schreibt weiter: "Und alles, weil wir kapituliert haben." Sein gefährliches Fazit: "Von heute betrachtet wäre es vielleicht besser gewesen, kämpfend unterzugehen." Beim Lesen merkt man schnell, die Wahrnehmung des gelernten Dachdeckers ist eine sehr eigene. Nicht nur politisch: Auf dem Weg vom Flughafen Tegel nach Moabit sieht er - wie einst bei Staatsbesuchen - Menschen am Straßenrand, Transparente, rote Fahnen, er hört "überwiegend freundliche" Rufe. Später erblickt er auf dem Gefängnishof Erich Mielke, früher Chef der Staatssicherheit. "Rot Front" ruft er ihm zu. Mielke reagiert nicht. Mit Absicht? "Ich kann und will nicht glauben, dass er so fertig ist", schlussfolgert Honecker erbost.

Der Mann sieht sich eingemauert von Feinden. Er macht sie überall aus: frühere Genossen - nur noch "Verräter"; der russische Präsident Boris Jelzin - "ich muss den Säufer nicht mehr fürchten, im Unterschied zu den Russen"; Michail Gorbatschow - ein "Schuft", ein "Perestroika-Kleinbürger". Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble "und die anderen Bonner Politiker" kommen noch glimpflich davon. Honecker nennt sie "Vollstrecker" der "Annexion der DDR". Sich selbst bescheinigt der gebürtige Saarländer einen aufrechten Gang und eine klare Haltung. Eigene Fehler oder Ansätze von Einsicht sind an keiner Stelle erkennbar. Da verwundert es auch nicht, dass er die DDR so schön beschreibt, wie er sie gerne gehabt hätte: Arbeitsstellen hätte es für alle gegeben, die Versorgung mit Waren und Dienstleistungen sei auf bestem Weg gewesen und das Wohnungsproblem bald gelöst. Nur konsequent ist somit auch seine Äußerung zum Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze: "Es gibt weder den jahrelang behaupteten Schießbefehl noch irgendetwas anderes, was ihre Verleumdung stützen könnte."

"Für Margot" hat er seine Bemerkungen überschrieben, von der Existenz des Manuskripts wusste niemand, bis die inzwischen 84-Jährige Ehefrau und gefürchtete Ex-DDR-Volksbildungsministerin es im September 2011 dem Verleger Frank Schumann in die Hand drückte. Beide haben das Manuskript bearbeitet und mit vielen Anmerkungen versehen. Durch den gesamten Text zieht sich eine erstaunliche emotionale Nähe zu seiner nach wie vor in Chile lebenden Frau, die Honecker "meine Kleine" nennt. Ihn schmerze die "Hetzjagd" gegen die 15 Jahre jüngere Margot, schreibt er. Sie wiederum bescheinigt ihrem am 29. Mai 1994 verstorbenen Erich in einem Vorwort, seine Aufzeichnungen würden "einige Wahrheiten ins Licht rücken inmitten der Lügen, Fälschungen und Verleumdungen, die nun schon seit über zwei Jahrzehnten verbreitet werden". Reue? Das ist in dem Buch nicht das Thema. Weder Margots, noch Erichs.

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