Ein Putsch, der keiner war

Als die Kampfjets über die Stadt donnern, wirft sich Gökhan Ölke in seiner Wohnung auf den Boden. "Tiefflieger und Explosionen" schreibt der Istanbuler Musiker am Freitagabend an seine Freunde auf Facebook . "Wir bleiben unten und warten darauf, was kommen mag." Kurz zuvor haben Soldaten die beiden Bosporus-Brücken in Istanbul blockiert und gepanzerte Fahrzeuge am Flughafen postiert. In Ankara bombardieren Kampfflugzeuge das Parlamentsgebäude und den Präsidentenpalast, während eine Sprecherin im Staatsfernsehen verkündet, ein "Rat für Frieden im Land" habe die Macht übernommen. In der Türkei hat ein Staatsstreich gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan begonnen.

 Freitagabend in Istanbul: Ein türkischer Polizist entwaffnet einen der putschenden Soldaten. Foto: Suna/dpa

Freitagabend in Istanbul: Ein türkischer Polizist entwaffnet einen der putschenden Soldaten. Foto: Suna/dpa

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Fluchtartig verlassen die Istanbuler die Restaurants und Bars, vor den Tankstellen und Geldautomaten bilden sich lange Schlangen: Die Türken wissen aus der Erfahrung der diversen Staatsstreiche , dass nun schwere Zeiten anbrechen könnten.

Doch anders als bei den Umsturzaktionen in den Jahren 1960, 1971 und 1980 traten die Militärs nicht geeint der Regierung entgegen. Außerhalb von Ankara liefern sich regierungstreue Truppen schwere Gefechte mit Einheiten der Putschisten . Laut Medienberichten werden Zivilisten von Panzern überrollt, Generalstabschef Hulusi Akar und andere Offiziere werden gefangen genommen. Kampfflugzeuge der Regierungstruppen schießen mindestens einen Hubschrauber der Umstürzler ab. Insgesamt werden mehr als 300 Menschen getötet. Schon nach einigen Stunden zeigt sich, dass sich der "Rat für Frieden im Land" verschätzt hat. Der Versuch der Putschisten , Präsident Erdogan an dessen Urlaubsort an der Ägäis festzunehmen, scheitert kläglich: Als die Soldaten das Hotel des Staatschefs stürmen, ist dieser schon längst auf dem Weg nach Istanbul.

Erdogan spürt, dass die Umstürzler weder die ganze Armee noch die Bevölkerung hinter sich haben. Das Erste Armeekorps distanziert sich ebenso von dem Putsch wie die Führung der Spezialeinheiten. Erdogan-treue Soldaten binden sich Tücher in den rot-weißen Landesfarben an den Arm, um sich von den aufständischen Truppen abzusetzen. Auch die türkische Zivilgesellschaft spielt nicht mit. Zehntausende im ganzen Land folgen dem Aufruf von Erdogan zu Demonstrationen gegen den Umsturz. Selbst die Chefs der Oppositionsparteien, die im politischen Alltag unversöhnliche Gegner Erdogans sind, rufen zur Gegenwehr gegen den Staatsstreich auf.

Am frühen Samstagmorgen ergeben sich die Truppen , die eine der beiden Bosporus-Brücken mit Panzern abgeriegelt hatten. Das ist das Zeichen dafür, dass der Putsch gescheitert ist.

Ohne lange zu warten, holt Erdogan zum Gegenschlag aus. Rund 6000 mutmaßliche Verschwörer werden festgenommen, mehrere tausend Richter suspendiert. Einige Juristen, darunter ein Verfassungsrichter, werden festgenommen. Der 62-jährige Präsident ist nach der überstandenen Herausforderung mächtiger denn je und nutzt die Lage, um den Druck auf seine Kritiker weiter zu erhöhen.

Erdogan macht die Bewegung des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen für den Umsturzversuch verantwortlich und kündigt eine Säuberungswelle in den Streitkräften an. Gülen distanziert sich von dem Putschversuch und spricht aus, was viele denken: Der Staatsstreich sei möglicherweise von Erdogan selbst inszeniert worden. "Das ist wie Hitlers Reichstagsbrand", kommentiert der Journalist Ergun Babahan.

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Hintergrund Das türkische Militär mit seinen nach eigenen Angaben knapp 640 000 Mitgliedern gilt als eines der größten der Welt. In der Nato stellen die Türken nach den USA die zweitgrößte Streitmacht. Im Innern des Landes sehen sich die Soldaten als Hüter der türkischen Verfassung. Allein seit 1960 putschte das Militär dreimal, weil es etwa das laizistische Prinzip der Trennung von Religion und Staat gefährdet sah. dpa

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