„Die Türkei ist nicht Erdogan“

Grünen-Chefin Claudia Roth ist derzeit in der Türkei. Auch sie wurde in Istanbul Opfer einer Tränengas-Attacke durch die Polizei. Über die Demokratiebewegung im Land sprach sie mit SZ-Korrespondent Hagen Strauß.

Frau Roth, wie geht es Ihnen?

Roth: Den Umständen entsprechend gut. Bei mir gibt es keine Nachwirkungen, im Unterschied zu vielen Protestierenden hier, die schwer verletzt wurden und bei denen die Polizei die Ärzte daran gehindert hat, sie versorgen zu können. Meine Anspannung ist aber weiterhin sehr groß. Die Proteste in der ganzen Stadt und das gewaltsame Vorgehen der Polizei haben ja nicht aufgehört.

Werden die Proteste denn im Rest der Türkei unterstützt?

Roth: Eindeutig ja. Wir haben es mit der breitesten Demokratiebewegung zu tun, die sich jemals in der Türkei formiert hat. Die Menschen gehen inzwischen in 80 Provinzen auf die Straße für das, was demokratische Grundnahrungsmittel sind: für Meinungsfreiheit, für Presse- und Versammlungsfreiheit und für ein selbst bestimmtes Leben. Sie wenden sich gegen einen Regierungsstil von Erdogan, der autokratisch versucht, bis ins Private der Menschen einzugreifen und ihnen ihr Leben vorzuschreiben.

Würden Sie sagen, die Türkei ist auf dem Weg in eine Diktatur?

Roth: Ich würde vor allem eines nicht tun: Ich würde die Türkei nicht gleichsetzen mit Erdogan. Das wäre ganz falsch.

Aber kann das Land unter diesen Umständen überhaupt Mitglied der EU werden?

Roth: Ich sage: Jetzt brauchen wir mehr Europa als jemals zuvor. Europa muss die Regierung in der Türkei zur Mäßigung bringen. Die Gespräche über einen Beitritt dürfen deshalb nicht abgebrochen werden, sondern darüber muss Druck auf Erdogan ausgeübt werden. Es wäre das größte Geschenk für den Ministerpräsidenten, der schon länger kein Reformer mehr ist, sondern immer absolutistischer herrscht, wenn Europa sich nun abwendet. Und es wäre eine riesige Niederlage, eine bittere Strafe für die Demokratiebewegung.

Wie kann Erdogan dann von seinem Kurs abgebracht werden?

Roth: Es muss auf allen Regierungsebenen massiver Druck ausgeübt werden. Auch die Nato ist gefordert, deren Mitglied die Türkei ist. Das Militärbündnis muss politisch Einfluss nehmen und deutlich machen, dass es nicht akzeptiert, wenn die türkische Regierung mit der Armee droht und brutal mit den Sicherheitsbehörden vorgeht. Außerdem benötigen wir zivilgesellschaftliche Solidarität - von Journalisten über Künstler bis hin zu Gewerkschaften. Es gibt zudem über 80 Partnerschaften zwischen deutschen und türkischen Städten. Auch hier erwarte ich von den Kommunen ein Zeichen an die türkische Demokratiebewegung.

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