Mega-Lesung in der Festung

Die Masse macht's: Der Philosophie aller Fernseh-, Werbe- und Spendensammlungsmanager folgend wollen auch die Literaten mit ihren Erzeugnissen nicht im staubigen Kämmerlein versauern

Die Masse macht's: Der Philosophie aller Fernseh-, Werbe- und Spendensammlungsmanager folgend wollen auch die Literaten mit ihren Erzeugnissen nicht im staubigen Kämmerlein versauern. Just zum Start der Fußball-Europameisterschaft, die wieder Millionen Menschen vor den Fernsehern und Public-Viewing-Wände versammeln wird, startet ein Kinderbuchautor einen Anlauf, sich im "Guinness Buch der Rekorde" zu verewigen. Stefan Gemmel will am 12. Juni sage und schreibe 10 000 Schülern auf der trutzigen Preußen-Festung Ehrenbreitstein hoch über dem Rhein in Koblenz eine Gruselgeschichte vorlesen und dann einige Schüler selbst lesen lassen.Ist das der goldene Weg, um der Literatur neue Anhänger zu verschaffen, Kinder und Jugendliche fürs Lesen zu begeistern? Wenn die 10 000 dort auf dem Festungsplateau in der Sonne schmoren, die Eidechsen über die Backsteinmauern flitzen sehen und bei Cola und Limo über die neueste App palavern, ist das sicher gemeinschaftsfördernd, ein "cooler" Ausgleich zum Schulalltag. Aber werden an diesem Tag wirklich Massen von Schülern bewogen, sich abends zum Schmökern früh ins Bett zu verabschieden, statt wie gewohnt bis zum Zerreißen des elterlichen Nervenkostüms mit Mitschülern und Freunden zu skypen? Die Anstrengung, diesen Beweis zu führen, wird Gemmel wohl nicht mehr auf sich nehmen, wenn er den Medien-Ruhm und die Eintragung im Rekord-Buch sicher hat.

Dennoch ist diese Show-Veranstaltung immerhin ein Versuch, aus den vorgeformten Bahnen der Leseförderung auszubrechen und neue Ansätze zu wagen. Wer jetzt wohlfeil kritisiert, dass zig Schulleiter und auch das Mainzer Kultusministerium bei dem Spektakel mitmischen, muss sich fragen lassen, welche Ideen er denn hat, um Kindern und Jugend das Lesen schmackhaft zu machen.

Die Buchhändler und das saarländische Kultusministerium etwa setzen seit Jahrzehnten auf die Vorlesewettbewerbe, die auf lokaler, Kreis- und Landesebene nach dem immer gleichen Schema durchgeführt werden. Ein Schüler sitzt vorne am Tisch und liest einen Abschnitt aus einem Buch vor - pure Literatur eben. Aber das Lesen ist in einem derart rasanten Veränderungsprozess begriffen, dass sich auch die Manager der Vorlesewettbewerbe Gedanken machen müssen. Sollen die Schüler künftig vom Tablet-PC oder aus dem E-Book lesen und der Text wird dann synchron per Beamer an die Wand geworfen? Soll der Autor via Skype beim Vorlesewettbewerb zuschauen und mitbewerten? Die technischen Möglichkeiten verändern sich bereits in dieser Minute, der potenzielle Jungleser braucht nur abgeholt zu werden. Es muss ja nicht unbedingt eine Lesung vor 10 000 saarländischen Schülern an der Saarschleife sein.

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