Radio Philharmonie Wenn dem Schall der Weg zu weit ist

Saarbrücken · Die Deutsche Radio Philharmonie geht bei der Fortbildung neue Wege. Konzert heute.

Nach gut zwei Stunden kommt einem das Ganze dann doch reichlich spanisch vor. Klapp-klapp, klapp-klapp, klapp-klapp: Die neun Musiker der Radio Philharmonie (DRP) klatschen reihum, als probten sie einen Flamenco-Abend. Statt noblem Zwirn, Orchestersitzordnung und feierlichem Ernst jetzt Jeans, Converse-Treter und Sitzkreis. Und die Laune schäumt manchmal wie beim Kindergeburtstag.

Im Stimmzimmer der Geiger auf dem Halberg hat Dozent Wolfram Winkel einen Bluetooth-Lautsprecher auf den Boden gestellt. Stoisch pulst der einen Metronomschlag. Erst mal synchron dazu klatschen. Dann: schneller werden. Nur um Sekundenpartikel, feinnerviges Accelerando mit bloßen Händen gewissermaßen. Schließlich gilt es, allmählich klatschend Gas zu geben, so dass man quasi einen Metronomschlag gut macht. Klingt nach Kinderkram für gestandene Profimusiker. Bildlich gesprochen wäre das aber in etwa so, als führen zwei Züge exakt gleich schnell parallel. Dann aber muss einer der Züge in voller Fahrt präzise um eine Waggonlänge vorziehen. Ein Kunststückchen für den Lokführer.

Tatsächlich bringen gerade zeitgenössische Komponisten gerne mal solche „Waggonrennen“ aufs Notenpapier. Minimal-Music-Legende Steve Reich etwa. Zwei Instrumente spielen da zunächst synchron das Gleiche. Ein Musiker hält exakt das Tempo, der andere legt kontinuierlich zu. So verschieben, überlagern, verschränken sich Rhythmen, Tonfolgen. „Phasing“ nennt sich das, was nervenzehrendes Präzisionsspiel für die Musiker bedeutet.

Schlagzeuger Wolfram Winkel ist Experte dafür. Als Gast war der Münchner bereits bei etlichen Produktionen des Ensemble Modern, einer seit Jahrzehnten führenden Gruppe für zeitgenössische Musik, dabei. Auch mit Reich arbeitete er mehrfach. Und immer häufiger gibt Winkel sein Wissen, seine Erfahrungen um Rhythmus und Polyrhythmik an Musikerkollegen weiter. Von Oktober an lehrt er auch an der Münchner Hochschule für Musik und Theater.

Nach Saarbrücken kommt Winkel schon zum zweiten Mal als Dozent. Will mit einfachen Übungen „sensibilisieren, Verständnis schaffen“, sozusagen die Ohren öffnen. Solche Fortbildungen sind aber eine absolute Rarität bei deutschen Top-Orchestern. „Die Radio Philharmonie ist das erste Orchester, bei dem ich das mache“, sagt Winkel. DRP-Schlagzeuger Martin Frink und Paukist Michael Gärtner haben die Workshops initiiert und fanden bei Orchestermanager Benedikt Fohr dafür gleich Unterstützung. „Es ist wichtig, dass man sich gerade für Neue Musik auch von außen neue Impulse holt“, meint Frink. Da schaut der Musik-Profi auch zu den Sport-Profis. Im Grunde sei das wie im Fußball, meint der Schlagzeuger, „wenn bei Jürgen Klopp plötzlich irgendwelche Gurus stehen und neue Trainingsmethoden einführen, wundern sich erst mal alle, aber dann setzt es sich durch.“ Die Resonanz unter seinen Kollegen sei sehr gut, freut sich Frink, Obwohl der Workshop nach den regulären Proben läuft, freiwillig in der Freizeit. Sogar der Dirigent des Studiokonzerts heute Abend, Titus Engel, macht spontan mit, schaut sich die „ein oder andere Übung ab, die man mal mit einem Orchester machen kann“.

Winkel schärft aber auch die Sinne für das ganz normale Konzert. Dafür hat er im Sendesaal zwei Lautsprecher postiert. Einen an der Stirnwand, Nummer zwei in der sechsten Zuhörerreihe. Aus beiden tönt ein Xylophon-Thema, exakt zeitgleich. Was aber beim Zuhörer in Reihe sechs ankommt, leiert hörbar, weil selbst der rasante Schall, der über 1200 Kilometer in der Stunde schafft, rund sechs Hundertstelsekunden für die 20 Meter von der Saalwand zum Publikum braucht. Was bedeutet, wer vom Publikum aus gesehen als Musiker ganz hinten sitzt, Schlagwerker etwa, muss schon Sekundenbruchteile früher loslegen, will er mit den Geigen ganz vorn akustisch auf den Taktschlag genau im Hörer-Ohr wahrgenommen werden. Und weiß man das, sitzt man mit noch mehr Respekt vor den Musikern als Zuhörer im Konzert. Und leiert’s dann wirklich mal, dann war dem Schall wohl einfach der Weg zu weit.

 Dozent Wolfram Winkel (Mitte) klatscht vor, Dirigent Titus Engel (vorn) klatscht nach. Links im Bild: DRP-Schlagzeuger Martin Frink.

Dozent Wolfram Winkel (Mitte) klatscht vor, Dirigent Titus Engel (vorn) klatscht nach. Links im Bild: DRP-Schlagzeuger Martin Frink.

Foto: Oliver Schwambach

Studiokonzert heute, 20 Uhr, SR-Sendesaal auf dem Halberg: Werke von Holliger, Walther, Lang und Schwamborn.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort