Regionalliteratur Das Lebensrisiko von Avatar-Spielern

Saarbrücken · Andreas Durys raffinierter Roman „Der Chor der Zwölf“ erzählt davon, inwieweit die Künstliche Intelligenz in unser Leben eingreift.

 Andreas Dury (56): Autor, Programmierer und Wahl-Saarbrücker.

Andreas Dury (56): Autor, Programmierer und Wahl-Saarbrücker.

Foto: Markus Dawo/Conte Verlag/Foto: Markus Dawo

Ohne über Gebühr auf der autobiografischen Klaviatur zu spielen: Zwei Parallelen zwischen Andreas Dury und der Hauptfigur seines heute erscheinenden Romans „Der Chor der Zwölf“ gibt es in jedem Fall. Ludwig Pfahl ist wie Dury exzessiver Raucher und Softwareentwickler. Letzteres ist für den Roman konstitutiv. Der eigenbrötlerische Pfahl hat über Jahrzehnte hinweg ein, wie es einmal heißt, „Informationsmonster“ entwickelt, dass Informationen „in sich hineinfrisst, so wie die Menschen die Luft atmen“.

Nach und nach wird daraus eine Art modernes Orakel, das alle erdenklichen Fragen zu beantworten vermag. Der von seinen Entwicklern später „Kaira“ getaufte Supercomputer erlangt im weiteren Verlauf politisch-gesellschaftliche Relevanz, womit sich „Der Chor der Zwölf“ bald als ein raffiniert gemachter, philosophischer Roman über Künstliche Intelligenz entpuppt. Wobei Dury (56), ohne Zuhilfenahme billiger Signalfarben, deren Hinauswachsen über uns ausmalt – sprich unseren Kon­trollverlust. Kaira „schwimmt wie ein Fisch in der Datenatmosphäre und macht 80 Milliarden Atemzüge pro Sekunde“, umschreibt es Pfahl. Wer sollte da noch mithalten können?

Den sozusagen militärisch-industriellen Überbau seines Romans entfaltet der seit 1988 als Autor in Saarbrücken lebende Dury erst nach und nach. Zu Beginn deutet nichts darauf hin, dass die langen Arme von EU-Kommission und Bundes­kriminalamt in Pfahls Leben hineinreichen könnten. Verschlägt uns der in zwölf Kapitel gegliederte Roman doch anfangs ins überschaubare Dahner Felsenland (Durys alte Heimat), wo Pfahl seinen totkranken und kurz darauf sterbenden Vater besucht. Das (für den Roman eher untypische) Eingangskapitel gehört in seiner prägnanten, atmosphärisch dichten Schilderung des Sterbehaushaltes, in dem Pfahl und seine Mutter als ungeübte Überlebende zurückbleiben, zu den Höhepunkten des Buches. „Er fragte sich, ob es eine Substanz in der Welt gibt, die Menschenleben heißt und an welcher Stelle der Welt, dort, wo sie fehlt, ein Loch aufklafft.“ Als säßen wir in einem Zwischenreich mit am Tisch, in dem Leben und Tod sich die Hand reichen, zeichnet Dury auf 60 Seiten Stück um Stück die routinierte Selbstregulierung des Lebens nach: Kaum ist eine Existenz ausgehaucht, setzen rituelle Handlungsmuster ein. Folgt auf den Tod dessen fachmännisches Entsorgen – begleitet von der stummen Trauer und verstockten Situationsergebenheit der Hinterbliebenen, die deren eigene Lebensuhr umso mahnender weiterticken lässt. Weshalb Pfahl denn auch zumute ist, „als habe er sich angesteckt am Tod seines Vaters“.

Die nach diesem Eingangskapitel hochliegende Messlatte wird nicht nur im nächsten, die Entfremdung zwischen Pfahl und seiner Frau andeutenden Kapitel, gerissen. Der irritierende Wechsel eindringlicher und holzhammerhafter Passagen wird vielmehr zum Grundmuster. Maßgeblich aus zwei Gründen: Zum einen glaubt Dury offenbar, seine komplexe Romankonstruktion notorisch mit gesellschaftlicher Aktualität (Flüchtlinge! Terror! Datenüberwachung!) aufladen zu müssen, was zu Lasten der inneren Konsistenz geht. Zum anderen verliert er im Zeichen dieses fortlaufenden Fädenspinnens seine stilistische Feinarbeit etwas aus den Augen. Vor lauter (vordergründig bleibender) Ereignishaftigkeit spült der Erzählstrom die für jede gute Prosa essenziellen atmosphärischen Sedimente aus. Dass „Der Chor der Zwölf“ dennoch phasenweise besticht, ist seiner schattierungsreichen Hauptfigur und Durys versiertem Umgang mit dem Themenkomplex „smarte Maschinen“ geschuldet.

Nicht nur, dass man diesen in­trovertierten, eigensinnigen, etwas selbstmitleidigen Pfahl (Vater zweier von ihm fürsorglich behandelter Kinder) mag, der manchmal fürchtet, „sich einen Dämon angelacht“ und die eigene Lebensmitte verloren zu haben. Er spielt auch als eine Art „Avatar“ der KI-Forschung gedanklich einiges durch, was uns alle angeht: sei es die Verselbständigung technischer Prozesse, die Problematisierung ihrer Folgen oder die staatliche Instrumentalisierung ungeahnter Speicheroptionen zu Überwachungszwecken. Und doch bleibt der algorithmische Zauber in Durys Roman gleichermaßen Menetekel wie Faszinosum. Entsprechend schlägt der erzählerische Magnet in beide Richtungen aus. Mal glaubt Pfahl, dass „ein System, das nicht in der Lage ist, gottgläubig zu werden, die menschliche Form der Intelligenz nicht wirklich realisiert“. Dann wieder sieht er in seiner Erfindung „das kosmologische Integral“ repräsentiert und somit eine universelle Intelligenz generiert.

Der Roman will zu viel und überlädt so seinen Plot: Pfahls Frau heuert bei ihrem Cousin Bruno, zu dem sie sich hingezogen fühlt, in einem von ihm im Elsass aufgezogenen Flüchtlingsheim an. Dort lässt Dury Bomben hochgehen, Islamisten und Sondereinsatzkommandos herumspringen. Bruno wiederum wird später den von Pfahl programmierten Supercomputer Kaira im Auftrag der EU-Kommission kaufen, um ihn in Big-Brother-Manier als Quell eines supranationalen Überwachungssystems in zwölffacher Ausführung („Der Chor der Zwölf“) zu nutzen. Und so gemeinsame Sache machen mit Pfahls schablonenhaft bleibendem Chef Brunner. Auch wenn Dury zum Ende hin noch so manche Kurve kratzt: Es schließen sich ein paar abenteuerliche Kreise zu viel in diesem ambitionierten Roman.

Dessen tiefere Pointe aber bleibt schlüssig und bezwingend: Je mehr das Wunderwerk Kaira Gestalt annimmt, desto mehr verliert Pfahl die eigene. Und lernt, dass er sich womöglich zu lange an eine Maschine verloren hat. Wer wie er sein „eigener Gott sein“ will, läuft Gefahr, zuletzt nackt dazustehen.

Andreas Dury: Der Chor der Zwölf. Conte Verlag, 372 Seiten, 22 €.

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