Wie ein Toter zu Lebzeiten

Hans Sahl (1909-1993) war einer der großen, politisch unabhängigen Köpfe der deutschen Exilliteratur. 20 Jahre nach seinem Tod ist sein 1942 im New Yorker Exil erschienener (und überwiegend 1941 dort auch geschriebener) Gedichtzyklus „Die hellen Nächte“ neu aufgelegt worden – eine Wiederentdeckung

Hans Sahls unter die Haut gehende, die Knochen der Zeit von Exil und Weltkriegsmorden abnagenden Gedichte führen uns an den Höllenschlund, in dem Westeuropas heutige Zivilgesellschaften sechs, sieben Dekaden zuvor, als die Lügen sich heiser logen und sich die Köpfe in die Erde wühlten, unterzugehen drohten.

Die Gedichte thematisieren im Wesentlichen Sahls Erfahrungen in den Jahren ab 1933 im französischen Exil : die Demütigungen in Internierungslagern; die Heimatlosigkeit, das Umherirren und die Vertreibung im Zeichen von Morden, Bangen, Hoffen, aber auch das Bewahren von Menschlichkeit. Sahls Gedichte sind im Wortsinne Überlebensmittel eines Gezeichneten, der sich fühlt wie ein Toter zu Lebzeiten - "bestürzt von meiner Schuld, noch da zu sein", wie es in "Die hölzernen Kreuze" (1939) heißt. Die Verse pochen, in Reimen regelrecht Halt suchend, schmerzhaft im Takt des erlittenen Schicksals und nehmen bereits Adornos späteres Nachkriegsdiktum vorweg, dass nach Auschwitz Gedichte zu schreiben nicht mehr möglich sei: "Wer wagt es noch, das Grauen zu besingen, / Dem Ungereimten Reime zu entringen. // Wer, der noch Worte hat, im Wort zu wildern, / Den Knochenfraß der Sprache zu bebildern." Und doch strafen, was die innere Zerrissenheit des Lyrikers und Menschen Sahl andeutet, dieselben Gedichte zugleich Adornos Einschätzung Lügen. Beschreibt Sahl deren Gestus doch in einem später (im Band "Wir sind die Letzten") erschienenen Gedicht wie folgt: "Wir glauben, dass Gedichte / überhaupt erst jetzt wieder möglich / geworden sind, insofern nämlich, als / nur im Gedicht sich sagen lässt, / was sonst / jeder Beschreibung spottet." ("Memo").

Was jeder Beschreibung spottet, ist der Verlust von Heimat: "Nicht lieben sollst du, was dich gehen ließ" ("Spruch"). Ist, dass noch der letzte Rest an Schönheit (etwa Mondschein) missbraucht wird: "Und wären die hellen Nächte nicht, / Dann gäb' es vielleicht auch kein Weltgericht // Und die Bomben fielen neben das Haus / und der Regen löschte die Flammen aus" ("Die hellen Nächte").

Es ist weder Sprachwucht noch Wortzauber, was Sahls Gedichte auszeichnet, es ist ihre entwaffnende Aufrichtigkeit. Treffend nannte sie Bruno Frank einst ein "Tagebuch in Strophenform".

Die Neuauflage des kleinen Bandes runden mehrere Textbeiträge ab: in erster Linie erhellende Auszüge aus einem 1993, später in der SR2-Reihe "Literatur im Gespräch" gesendeten Interview mit Hans Sahl über seine Sicht der Vorkriegs-, der Kriegs- und Nachkriegszeit (nicht zuletzt im Zeichen des Hitler-Stalin-Pakts und des Niedergangs der politischen Bedeutung von Kultur). Dazu ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der "Hellen Nächte" sowie ein im Herbst 2012, wenige Monate vor dessen Tod, mit Stéphane Hessel geführtes Gespräch über Varian Frys und Hans Sahls Bemühungen, Anfang der 40er Jahre Exilanten nach Amerika zu bekommen. Beiträge, die dazu animieren, auch Sahls "Memoiren eines Moralisten" von 1981, ein altersweises Jahrhundert-Panorama, zu lesen.

Hans Sahl: Die hellen Nächte. Gedichte aus Frankreich. Mit Beiträgen von Burkhard Baltzer, Momme Brodersen, Stéphane Hessel und Ralph Schock. Weidle Verlag, 100 Seiten, 16,90 Euro.

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