Deutsch-französischer Schulterschluss

Straßburg · Kanzlerin Merkel und Präsident Hollande warnen angesichts des Flüchtlingszustroms vor nationalen Alleingängen. Bei einem symbolträchtigen Besuch im EU-Parlament fordern sie gerade jetzt mehr Europa.

Den "historischen Moment" hatte Martin Schulz schon vorab ausgemacht. Als der Präsident des Europäischen Parlamentes gestern Nachmittag Angela Merkel und François Hollande ansagen konnte, waren alle Augen auf diesen Doppelauftritt in Straßburg gerichtet - erstmals seit 26 Jahren standen eine deutsche Bundeskanzlerin und ein französischer Staatspräsident wieder nebeneinander. "Damals wehte der Wind der Freiheit über Europa", beschrieb Hollande die Situation, als Helmut Kohl und François Mitterrand nach Straßburg kamen. "Heute steht die Union vor einer Bewährungsprobe historischen Ausmaßes", stellte Merkel fest. Nach der Finanz- und der Staatsschuldenkrise, nach den Problemen mit Griechenlands Sanierung sehe man sich nun der "Welle der Flüchtlingen, die vor schrecklichen Kriegen" geflüchtet seien, gegenüber.

Merkel und Hollande gelten beide in ihrer Heimat nicht als begnadeter Redner. Doch in dieser Stunde redeten sie Tacheles. Europa habe zu spät verstanden, dass die Bürgerkriege in Syrien, im arabischen Raum und in Nordafrika auch Konsequenzen für die Gemeinschaft haben würden, bilanzierte Hollande selbstkritisch. "Aber wenn jetzt jeder für sich agiert, ist das das Ende Europas", betonte er unmissverständlich und zitierte am Schluss sogar sein Vorbild Mitterrand, der vor 26 Jahren angesichts des Zusammenbruchs der Berliner Mauer gemahnt hatte: "Nationalismus ist Krieg." Die Bundeskanzlerin bilanzierte nicht weniger deutlich, die Überwindung des Gegensatzes von Ost und West sei "ein Erfolgsmodell". Und genauso müssten die Staaten jetzt "zusammenstehen". In der Flüchtlingskrise bedeute das: "Wir dürfen nicht dem Versuch erliegen, in nationalstaatliches Handeln zurückzufallen." Merkel: "Wenn wir das tun, verraten wir uns selbst. Wenn wir aber gemeinsam handeln und tun, was wir beschlossen haben, werden wir diese historische Krise schaffen." Um diesen Weg zu gehen, plädierten beide Staatenlenker für eine weitgehende Neuorientierung der EU. "Unsere Außen- und Entwicklungspolitik muss weitaus stärker als bisher darauf ausgerichtet werden, Konflikte in unserer Nachbarschaft zu lösen", forderte die Kanzlerin. Und auch der französische Staatspräsident stellte fest: "Ich will Europa zu einer politischen Gemeinschaft weiterentwickeln, in der es Werte und Regeln gibt, zu denen alle stehen und die alle verteidigen." Die Union müsse in der Flüchtlingsfrage die gefassten Beschlüsse umsetzen, dazu zählte Hollande neben dem verstärkten Schutz der Außengrenzen und der Verteilung von Asylbewerbern auf alle Mitgliedstaaten auch den beschleunigten Vollzug von Abschiebungen derer, die kein Recht auf Asyl beanspruchen können. Merkel wurde in diesem Punkt unmissverständlich: "Wir müssen denen sagen, dass sie nicht bleiben können, damit wir denen, die Schutz brauchen, auch Schutz gewähren können." Aufbruchstimmung, die beide verbreiten wollten - genau einen Tag, bevor heute die Innenminister der EU in Luxemburg zusammenkommen. Dem Vernehmen nach sollen sie die EU-Grenzschutzagentur Frontex damit beauftragen, rund 400 000 Flüchtlinge , denen kein Bleiberecht gewährt wird, "sofort in ihre Herkunftsländer" abzuschieben. Staaten, die sich weigern, ihre Bürger wieder aufzunehmen, will man mit Sanktionen drohen.

Beide plädierten auch dafür, den Riss, der bei den letzten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs über die Verteilquote für Flüchtlinge entstanden war, wieder zu schließen. So oft, wie Merkel das Wort "gemeinsam" in den Mund nahm, sprach Hollande von "Solidarität". "Wir brauchen eine mutige Entscheidung einer starken Gemeinschaft", bekannten beide. Von den 751 Abgeordneten gab es gestern stehenden Applaus, viel Zustimmung und auch Kritik. Dennoch waren sich die meisten einig: Es war wichtig, dass die Merkel und Hollande gemeinsam hier waren.

Meinung:

Zwei Botschaften für Europa

Von SZ-KorrespondentDetlef Drewes

Das Bild erscheint längst gewohnt - und doch ist es ein Beleg für eine historische Entwicklung, die untrennbar mit Europa verbunden bleibt: die deutsche Kanzlerin und der französische Staatspräsident, nebeneinander in dem Parlament, in dem die Vertreter von 508 Millionen Europäern aus 28 Mitgliedstaaten sitzen. Zwei Botschaften wollten sie Europa übermitteln: Diese Union ist, wenn sie zusammensteht, so stark, dass auch diese Krise rund um die Flüchtlinge gemeistert werden kann. Und: Wir haben längst die notwendigen Beschlüsse, um den Flüchtlingsstrom einzudämmen, die Angekommenen zu sortieren. Wir sind sogar entschlossen, die zurückzuschicken, die keinen Anspruch auf Schutz haben. Solche Klarstellungen waren nötig - auch wenn sie nicht bei allen ankommen werden. Gelingt es Merkel und Hollande, aus diesen Worten greifbare Politik zu machen, hat sich der Ausflug nach Straßburg gelohnt.

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