Gespräche für die Ewigkeit

Saarbrücken · George Steiner (86), der in Cambridge, Genf und Oxford gelehrt hat, ist Literaturwissenschaftler, Philosoph und einer der letzten Universalgelehrten unserer Zeit. In Gesprächen mit der französischen Kulturjournalisten Laure Adler zieht er eine Bilanz seines Denkens und redet vom Tod – in einem bemerkenswerten Dialogbuch, das man mit Gewinn liest.

 George Steiner, Universalgelehrter. Foto: Basso Cannarsa/Opale/Leemage

George Steiner, Universalgelehrter. Foto: Basso Cannarsa/Opale/Leemage

Foto: Basso Cannarsa/Opale/Leemage

Als seine Eltern in Paris, wohin die jüdische Familie aus Wien kam, in den Straßen das "Tod den Juden"-Gebrüll der Nazis vernahmen, nahm George Steiners Vater den Sechsjährigen bei der Hand, öffnete die Vorhänge und sagte: "Das nennt sich Geschichte, und du darfst dich niemals fürchten." Die Steiners emigrierten daraufhin 1940 nach Amerika. Der kleine George hat diese Lektion jedoch für immer verinnerlicht. Und überlebt. Mit dem nagenden Gefühl der Schuld, anders als viele andere davon gekommen zu sein. In "der unerforschbaren Lotterie des Lebens" das Glückslos gezogen zu haben, wie er der französischen Journalistin Laure Adler anvertraut.

Adler hat den mitterweile 86 Jahre alten Grandseigneur der europäischen Geistesgeschichte und Kulturphilosophen über Jahre hinweg immer wieder an seinem Wohnsitz in Cambridge aufgesucht. Beider Gespräche liegen nun in deutscher Übersetzung vor und geben Einblick in Steiners Denken. Hätte er in den 50ern nicht in Princeton, wohin Steiner als junger Journalist in Diensten des "Economist" für eine Reportage über den Vater der Atombombe, Robert Oppenheimer, gereist war, nicht solchen Eindruck hinterlassen, wäre Steiners Leben womöglich anders verlaufen. So aber heuerte ihn Oppenheimer gleich als Fellow in Princeton an. Doch nicht Eitelkeit prägt die Gespräche mit Adler, auch wenn diese eher Stichwortgeberin bleibt, ohne dass dies je störte. Nein, Steiner hat Grundlegendes zu sagen. Ob über die "Unterwürfigkeit" der Sprache, die sich zu jeder Täuschung hergibt, im Gegensatz zum Nicht-Lügen der Musik. Über die Kunst, überall zuhause zu sein ("Geben Sie mir einen Schreibtisch, und ich habe ein Vaterland."). Die Denkfiguren Steiners führen zu einer Aufteilung der Gespräche in fünf Abteilungen: Vom Biografischen kommt er zur Rolle des Judentums, wobei er die herausragende Rolle der Juden in der Wissenschaft konstatiert, was ihn zu der These führt, selbige sei womöglich "die Frucht des enormen Drucks, den die Gefahr ausübt". Vom Jüdischen geht es zu den Grenzen und Möglichkeiten von Sprache, wobei er es mit Beckett hält, in Steiners Sicht der größte Universalist der Sprache: "Das habe ich meinen Studenten immer gesagt: Versuchen wir, bei unserer nächsten Lektüre besser zu scheitern." Am Ende der Unterredung stehen Religion und Tod und die von ihm konstatierte Vulgarisierung der Welt. Bei alledem wirft Steiner ein ums andere Mal scharfsinnige wie originäre Anregungen in den (Denk)-Raum.

Am Beispiel des (nach King Lears Tochter benannten) "Cordelia-Syndroms" wirft er die Frage auf, ob Realitätsüberdruss ("die reelle Agonie auf der Straße") uns womöglich daran hindert, bessere Menschen zu sein. Weil Kunst, Musik, Literatur eine Gegenwelt ebnen, deren "große fiktionale Intensität" den Alltag umso schaler macht. Und solcher Art "unsere moralische Sensibiltät" (oder Empathiefähigkeit) schwächt statt sie zu schärfen. Ein Schriftgespräch wie dieses, das einen unerhört anregenden Geist ausholen (und zuweilen in Anekdotische abschweifen) lässt, kann man nicht anders als einen Genuss nennen.

George Steiner: Ein langer Samstag. Ein Gespräch mit Laure Adler. Übers. v N. Bornhorn. Hoffmann & Campe, 159 S., 15,99 €.

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