„Von den Hilfspaketen haben wir nichts“

Athen · Trotz der Milliarden an Hilfsgeldern ist der Schuldenstand Griechenlands kaum gesunken. Dafür hat die Arbeitslosigkeit Rekordwerte erreicht: Jeder dritte Grieche im erwerbsfähigen Alter sucht einen Job.

Es ist der Tag, auf den Helena sich schon den ganzen Monat freut. Der Tag, an dem die 37-jährige Mutter mit dem Zug in ein kleines Dorf außerhalb Athens fährt. Zwei Stunden ist sie unterwegs, um das Heim zu erreichen, in dem ihre beiden Kinder leben. Ihre achtjährige Tochter und den zehnjährigen Sohn hat sie vor einem halben Jahr dort unterbringen müssen. "Ich konnte sie nicht mehr versorgen", erzählt die alleinstehende Frau unter Tränen. Der Handwerksbetrieb, in dem die gelernte Sekretärin gearbeitet hatte, musste schließen. Einen neuen Job gab es nicht. Heute lebt sie von Gelegenheitstätigkeiten, im Monat bleiben ihr rund 500 Euro. "Ihr schickt uns doch viele Milliarden, warum kommt denn davon bei uns nichts an?" Helenas Schicksal ist griechischer Alltag. Jeder dritte Grieche im erwerbsfähigen Alter sucht Arbeit. In der Altersklasse der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 steht sogar mehr als jeder Zweite auf der Straße.

"Mein Studium bringt mir gar nichts", erzählt die 24-jährige Marija. Sie hat Ingenieurswissenschaften studiert. Arbeit gibt es für sie nicht. Vor vier Monaten musste sie ihre Wohnung aufgeben und lebt nun wieder bei den Eltern. "Ich muss wohl meine Heimat verlassen, ins Ausland gehen. Warum helft ihr uns nicht?" Aus Enttäuschung ist längst Verbitterung geworden. In den Zeitungen, "die wir uns klauen müssen, weil wir sie nicht bezahlen können", lesen "wir von Milliarden Hilfspaketen, von denen wir aber nichts haben".

Andonis ist Arzt. Er arbeitet in einem großen Krankenhaus in Thessaloniki. Mehr als 70 Stunden in der Woche. Sein Lohn: Knapp 900 Euro. Davon müssen er, seine Frau, die drei Kinder und die Schwiegereltern leben. "Der Euro ist ungerecht", sagt er offen. "Er hilft den Falschen." Rund 240 Milliarden Euro stellten die Partner der Währungsunion in zwei Rettungspaketen für das Land bereit. Private Geldgeber haben auf die Rückzahlung von über 100 Milliarden Euro an Schulden verzichtet. Trotzdem ist der öffentliche Schuldenstand kaum gesunken und liegt noch immer bei rund 300 Milliarden Euro - über 170 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Erlaubt sind 60 Prozent. "Mit dem Geld konnte die Athener Regierung ihre Verbindlichkeiten bedienen und so einen Schritt aus der Schuldenspirale heraus tun", heißt es aus der Brüsseler Kommission. Sie betont auch, dass die Staats- und Regierungschefs inzwischen weitere 120 Milliarden Euro im Rahmen eines Wachstumspaktes zum Aufbau der Wirtschaft bereitgestellt haben.

Die in Athen so verhasste Troika aus Vertretern der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und des Internationalen Währungsfonds (IWF) präsentierte schon vor mehr als einem dreiviertel Jahr eine Liste mit 150 Projekten, die nachhaltiges Wachstum schaffen sollten. Autobahnen, Ferienanlagen, Ausbau touristischer Ziele - all das ist enthalten. "Das ist ein guter Ansatz", hieß es damals in der EU-Zentrale. Geschehen ist nichts. "Trotz des Schuldenverzichts sind die Gelder bisher vor allem an die geflossen, die Forderungen an Griechenland gestellt haben", sagt ein hoher EU-Diplomat, der nicht genannt werden will. Weil die öffentlichen Zweifel an der Rettungsmission sonst zu laut werden könnten. Seine Analyse ist bitter. Denn sie bedeutet nichts anderes, als dass die EU-Partner Geld auf dem Umweg über Griechenland vor allem den eigenen Banken zugeschoben haben, damit diese nicht in Gefahr geraten. Abgesehen von hohen Zinsen, die Athen auch noch zahlen muss: Allein die Bundesrepublik hat bisher fast 600 Millionen an der vermeintlichen Hilfe für die Hellenen verdient. Zumal diese "europäische Solidarität", wie die Staats- und Regierungschefs die Transfers gerne nennen, von scharfen Auflagen begleitet sind.

Höhere Steuern, kleinere Renten - die Konditionen haben nicht nur Athen, sondern auch Lissabon, Madrid und Zypern in heftige soziale Turbulenzen gestürzt. In nahezu allen Schuldenländern ist der Staat an die kurze Spar-Leine Brüssels gelegt worden, die öffentlichen Investitionen gingen zurück. In der Folge kollabierten immer mehr Betriebe, hunderttausende Jobs gingen verloren. Dadurch gerieten die Sozialsysteme ins Schlingern, weil Arbeitslose kosten, anstatt Steuern und Beiträge zu generieren.

"Wir brauchen Wachstum", werden die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament nicht müde zu betonen. "Man muss investieren, um dann gesunden zu können. Andersherum geht es nicht". Anfang des Jahres gab es erste Erfolgsmeldungen: Investoren kehren tatsächlich zurück. Erste Verträge für Logistikzentren und Hafenausbau wurden unterschrieben. Aber bis daraus konkrete Baustellen werden, dauert es noch. Der hellenische Staatsapparat braucht für eine solche Genehmigungsprozedur im Schnitt drei Mal so lange wie in Deutschland. Und dort ist man schon nicht schnell. "Natürlich muss unsere Verwaltung reformiert werden, müssen wir uns anstrengen, um besser und wettbewerbsfähiger zu werden", sagt Tomasis (42), der in einer kleinen Athener Vorort-Gemeinde Bürgermeister ist. "Wir sind da für die Hilfe Ihrer Berater auch dankbar." Aber er weiß auch: Die öffentliche Verwaltung effizienter zu machen bedeutet, einen jahrelang angehäuften Überhang an Stellen abzubauen. Also Beschäftigte zu entlassen. "Sie können von den Menschen nicht erwarten, dass sie das gut finden - auch wenn es unsere Chance ist."

Kein Wunder, dass die griechischen Medien angesichts der Spekulationen über ein drittes Hilfspaket von einer "Drohung" sprechen. Die Furcht vor weiteren Einschnitten mit neuen Auflagen ist groß. "Es hat keinen Sinn mehr, uns weiter zu strangulieren. Was die Troika und die Geldgeber am Runden Tisch fordern, ist reine Statistik. Aber wir Menschen sind keine Statistik, wir können nicht mehr", fasst Athina ihre Erfahrungen zusammen. Die 42-Jährige leitet in Saloniki eine Beratungsstelle für soziale Randgruppen und sagt offen: "Eigentlich ist Griechenland ein einziger Problemfall. Es gibt nur noch ein paar Wohlhabende, der Rest ist bitterarm." Und von einer "langfristigen Perspektive" könne man sich eben heute nichts kaufen. Mit Wirtschaftsdaten kann man eben keine Miete bezahlen, auch wenn die leicht nach oben zeigen: Das BIP soll nach 183,5 Milliarden 2013 im nächsten Jahr auf 184,0 Milliarden steigen. Die Arbeitslosenquote von heute 27 auf 26 Prozent in 2014 sinken. Und auch die jährliche Neuverschuldung geht demnach von 4,6 auf 3,4 Prozent zurück.

Jannis ist 27 Jahre alt. Seit drei Monaten arbeitet er als Lehrer an einem Gymnasium in Athen. Er sagt: "Nicht der Euro ist schlecht, sondern unser Staat hat ihn missbraucht. Ihr dürft nicht aufhören, an uns zu glauben. Irgendwann lernen wir dann auch wieder, auf Europa zu bauen."

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