Schlappe für Merkel, Blumen für Wulff

Um 14.10 Uhr weiß Angela Merkel, dass es für sie und ihren Kandidaten Christian Wulff kein guter Tag wird. "Zweiter Wahlgang, zweiter Wahlgang", raunen sich die ersten Delegierten der Bundesversammlung zu. Auch auf den Besuchertribünen verbreitet es sich wie ein Lauffeuer, dass Wulff die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang verfehlt hat

 Für Kanzlerin Merkel, die hier den neuen Bundespräsidenten zur Wahl beglückwünscht, wird das Regieren nicht leichter. Foto: dpa

Für Kanzlerin Merkel, die hier den neuen Bundespräsidenten zur Wahl beglückwünscht, wird das Regieren nicht leichter. Foto: dpa

Um 14.10 Uhr weiß Angela Merkel, dass es für sie und ihren Kandidaten Christian Wulff kein guter Tag wird. "Zweiter Wahlgang, zweiter Wahlgang", raunen sich die ersten Delegierten der Bundesversammlung zu. Auch auf den Besuchertribünen verbreitet es sich wie ein Lauffeuer, dass Wulff die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang verfehlt hat. Und wie! Nur 600 Stimmen für Wulff, das sind 23 weniger als erforderlich, und 44 weniger als die Koalition eigentlich an Sitzen hat. Joachim Gauck, der Kandidat von SPD und Grünen, hat hingegen 499 Stimmen erhalten, 39 mehr als erwartet. Ein einmaliger Ausrutscher, ein verschmerzbarer Denkzettel? Um 17.03 Uhr weiß Angela Merkel, dass es mehr ist. Ein Debakel. Auch der zweite Wahlgang geht schief.

Nun kracht es zwischen Merkel und FDP-Chef Guido Westerwelle. Diesmal sind es 615 Stimmen für Wulff, immer noch acht weniger als notwendig und 29 weniger als möglich. Westerwelle blafft Merkel an, die meckert zurück; die FDP will es nicht gewesen sein, vier Liberale haben vorher offen bekundet, dass sie für Gauck stimmen werden. Mehr liberale Abweichler gebe es nicht, verkündet die FDP voller Inbrunst.

Nur fünf Minuten dauert nach dem ersten Wahlgang die Fraktionssitzung der Union. Merkel, CSU-Chef Horst Seehofer und Fraktionschef Volker Kauder appellieren an die Geschlossenheit, aber sie verzichten auf Vorwürfe. Das wäre jetzt kontraproduktiv, glaubt die Kanzlerin. Bloß nicht zu viel Druck machen. Sie hat die Hoffnung, dass die Abweichler nur ihren Frust ablassen wollten, aber keine echte Revolte planen. Sie unterschätzt, wie massiv der Ärger in ihrer Partei ist.

Erst als es ein zweites Mal schief geht, als man ein zweites Mal geknickt von Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU) den Satz hört, dass keiner der Kandidaten die erforderliche Mehrheit erreicht hat, wird bei der Union Tacheles geredet. "Das ist blamabel", sagt CSU-Mann Hans Michelbach. Da seien "Profis" am Werk, die nur "zündeln" wollten. Merkel müsse jetzt endlich sagen, "ich habe verstanden". Und tatsächlich wird die Kanzlerin hinter verschlossenen Türen nun emotional. Sie räumt ein, dass nicht alles optimal gelaufen ist in den vergangenen Monaten. Der Hesse Roland Koch steht auf, er bittet, persönliche Dinge zurückzustellen. Seine Rede ist leidenschaftlich, der Beifall für ihn frenetisch. Auch Seehofer gibt sich selbstkritisch, und als dann noch drei einfache Wahlmänner rührend bekunden, sie seien doch nach Berlin gekommen, um Wulff zum Präsidenten zu wählen, kippt die Stimmung in der Union - zugunsten des Kandidaten.

Ein zweites Drama findet zur gleichen Zeit nebenan statt, bei der Opposition. Denn beim dritten Anlauf zählt die einfache Mehrheit, und nun könnten SPD, Grüne und Linke eventuell sogar einen eigenen Präsidenten gegen Schwarz-Gelb durchsetzen. Wenn sie sich einig wären. Die Besprechung dazu findet im Büro von SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier statt und wird zum Triumph für Oskar Lafontaine. Zum ersten Mal seit seinem Abgang 1999 reden die Sozialdemokraten wieder mit ihrem einstigen Vorsitzenden. "Das hat Merkel fertig gebracht", sagt ein Linkspolitiker ironisch. Hildegard Hamm-Brücher, die frühere große alte Dame der Liberalen, jetzt Wahlfrau der Grünen, nimmt an dem Treffen teil. Sie appelliert eindringlich an die Linken: Die Menschen wendeten sich von den Parteien ab und gingen nicht mehr zur Wahl. Sie bräuchten einen glaubwürdigen Präsidenten. Einen wie Gauck. Man möge doch die eigene Verantwortung bedenken. Doch es gibt keine Einigung. Eigentlich geht es in dem kleinen Büro Steinmeiers nur noch um gegenseitige Schuldzuweisungen.

Lafontaine bietet schon auf dem Weg zu diesem Treffen dem Rheinland-Pfälzer Kurt Beck an, wenn SPD und Grüne Joachim Gauck zurückzögen, "können wir was machen". Beck giftet zurück: "Das ist charakterlos." Hinter verschlossenen Türen wird Lafontaine konkreter. Man könne sich auch Matthias Platzeck, Brandenburgs SPD-Minister, als gemeinsamen Kandidaten vorstellen. SPD und Grüne weisen das zurück und fordern ihrerseits von den Linken, auf ihre Bewerberin Luc Jochimsen zu verzichten. Wie emotional die Stimmung ist, wird deutlich, als Links-Fraktionschef Gregor Gysi nach einer turbulenten Sitzung seiner Fraktion wenig später zwar Jochimsens Rückzug verkündet, dennoch aber nicht für Gauck werben mag. Der sei ebenso wie Wulff ein konservativer Politiker, die Linke werde sich überwiegend enthalten. "Ihr müsstet bloß über euren SED-Schatten springen", schimpft der grüne Europaabgeordnete Werner Schulz in die Pressekonferenz. "Ihr hättet uns mal anrufen sollen, als ihr im Alleingang Gauck nominiert habt", entgegnet Gysi. "Aber wir haben doch jetzt gesprochen", sagt Schulz. "Ja, aber zu spät". So geht es zu vor laufender Kamera.

Um 21.15 Uhr, sieben Stunden später als erwartet, war Wulff endlich Bundespräsident. Im dritten Wahlgang erst und erneut ohne kompletten Rückhalt von Schwarz-Gelb, aber nun endlich sogar mit der absoluten Mehrheit von 625 Stimmen.

Die Linke hat sich fast komplett enthalten, und Gauck mit 494 wieder erstaunlich gut abgeschnitten. "Das ist sicher kein Zeichen eines erfolgreichen Neustarts einer bürgerlichen Regierung hier in Berlin", sagt draußen Hessens FDP-Chef Jörg-Uwe Hahn. Man könnte es tatsächlich so sehen. "Das ist kein Zeichen eines erfolgreichen Neustarts einer bürgerlichen Regierung."

Hessens FDP-Chef Jörg-Uwe Hahn

Hintergrund

Rein historisch betrachtet ist ein dritter Wahlgang bei der Wahl des Bundespräsidenten kein Novum. In der Vergangenheit wurden auch Gustav Heinemann (SPD) und Roman Herzog (CDU) erst im dritten Anlauf ins Amt gewählt. Im ersten und zweiten Wahlgang ist die absolute Mehrheit nötig, im dritten Wahlgang reicht die relative Mehrheit. Dann wird also nicht mehr die Mehrheit der Sitze in der Bundesversammlung gebraucht, sondern nur noch die einfache Mehrheit der Stimmen.

 Für Kanzlerin Merkel, die hier den neuen Bundespräsidenten zur Wahl beglückwünscht, wird das Regieren nicht leichter. Foto: dpa

Für Kanzlerin Merkel, die hier den neuen Bundespräsidenten zur Wahl beglückwünscht, wird das Regieren nicht leichter. Foto: dpa

 Für Kanzlerin Angela Merkel, die hier dem neuen Bundespräsidenten Christian Wulff gratuliert, wird das Regieren nicht leichter. Foto: dpa

Für Kanzlerin Angela Merkel, die hier dem neuen Bundespräsidenten Christian Wulff gratuliert, wird das Regieren nicht leichter. Foto: dpa

Heinemann setzte sich 1969 im dritten Wahlgang gegen den Unionskandidaten Gerhard Schröder (CDU) durch. Dem von SPD und FDP vorgeschlagenen Heinemann reichte dabei die relative Mehrheit von 49,4 Prozent. Herzog wurde 1994 ebenfalls erst im dritten Wahlgang gewählt. Gegen ihn waren unter anderem Johannes Rau als SPD-Kandidat und im ersten und zweiten Wahlgang Hildegard Hamm-Brücher (FDP) angetreten. afp

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