Aufklärung jenseits der Schulbank Sexualkunde ohne Bio-Buch

Völklingen · Aufklärung nur als trockener Unterrichtsstoff? Von wegen. Ein Vormittag in Völklingen zeigt: Es geht auch anders. Dank der „Sexpäds“.

 Ein Uterus zum Anfassen: Sexualpädagogisches Anschauungsmaterial hilft den Experten von Pro Familia bei ihrer Arbeit.  Bild oben rechts: Steffi Reiche mit den Schülerinnen am Völklinger Albert-Einstein-Gymnasium.

Ein Uterus zum Anfassen: Sexualpädagogisches Anschauungsmaterial hilft den Experten von Pro Familia bei ihrer Arbeit. Bild oben rechts: Steffi Reiche mit den Schülerinnen am Völklinger Albert-Einstein-Gymnasium.

Foto: Robby Lorenz

„Sexpäd“ – das klingt ein bisschen so wie Kaffeepad. Was beide gemeinsam haben: Wenn alles glattläuft, kommt etwas Gutes dabei heraus. Das hoffen an diesem Dienstagvormittag auch Steffi Reiche und Boris Rau. Die Sexualpädagogen der Beratungsstelle Pro Familia, kurz Sexpäds genannt, sind zu Besuch am Völklinger Albert-Einstein-Gymnasium. Neunte Klasse. 19 Jungs, fünf Mädchen.

8.45 Uhr. Rau wartet in einem großen Raum auf die jungen Männer, die Reiche ein paar Gänge weiter aus dem Klassenzimmer scheucht. Fünf Mädels nehmen die 41-Jährige auf wie eine Vertretungslehrerin. Wohlwissend, dass sie keine ist.

Erster Gymnasialreflex: Sitzen in Reih und Glied und auf Berieselung warten. Reiche weiß das zu unterbinden: „Wir bilden einen Kreis.“ Gesagt, getan. „Das sieht ja aus wie ein Aufbackbrötchen!“ Fünfmal Gekicher. Reiche flachst mit: „Einige sagen Hotdog.“ Ein bisschen Spaß muss sein, bevor Reiche die Vulva auf dem Tuch drapiert. Die Mädels bilden jetzt einen Halbkreis vor Geschlechtsteilen aus Kunststoff. Judith (14), Maja (13), Lilly (14), Finja (14) und Leonie (13). Spielen Handball, lesen Fantasy-Bücher. Von Genitalverstümmelung haben sie noch nie etwas gehört.

Zum Warmwerden ein Quiz mit 18 Fragen. Grübeln in zwei Gruppen. Zehn Minuten später ist der Halbmond aus Stühlen wieder voll. Erste Frage: „Wie heißen die Geschlechtsteile von Mädchen?“ Von Klitoris hat man schon gehört, aber das große Objekt hinterlässt doch aufgerissene Augen. „Einige sagen, die Klitoris sei ein verkümmerter Penis. Das stimmt natürlich überhaupt nicht.“ Die Pädagogin streut immer wieder Sätze ein, in denen sie Mythen entkräftet. „Kann das Jungfernhäutchen durch ein Tampon reißen?“, wollen die Mädchen wissen. Ja, es könnte. Aber selbst wenn, wäre das ok, so die Botschaft. „Es gibt Kulturen, die wert legen auf ein unversehrtes Jungfernhäutchen.“ Reiche will wissen, ob Kontakt zu muslimischen Schülerinnen besteht. „Man redet mal“, murmelt es aus der Runde. Aber nicht über Frauenärzte oder das erste Mal.

Apropopos erstes Mal. Reiche beschreibt ein ungünstiges Szenario: Man ist mit dem Freund zu Hause und Mama kommt jeden Moment „aus dem Globus heim“. Wie reagiere ich? Die Mädchen schmunzeln, wirken plötzlich ermattet. Reiche reagiert. „Kennt ihr Tabu?“ Ja! Erstes Wort: „Liebeskummer“. Die Clique kennt sich seit der fünften Klasse. Leichtes Spiel. „Den Freund ausspannen“, „Pille“, „Lust“, „Puff“ (da darf eine böse Anspielung auf männliche Mitschüler nicht fehlen).

Nach dem Exkurs erzählt Reiche von einem Freund, der an Aids starb. „Wisst ihr, was Aids ist?“ So halb. Reiche verteilt Kondome. Mäßiges Interesse. Die Aufmerksamkeit steigt, als sie das große Dreieck mit den ulkigen Armen auspackt. Ein Uterus. Reiche zeigt, wie die Eizelle in die Gebärmutter wandert.

Vier Stunden fühlen sich an wie vier Minuten. „Besser als Schule!“, so das Unisono-Fazit. Judith hätte es im Unterricht schwerer gefunden, sich zu öffnen. „Viele Lehrer sprechen ja selbst nicht gerne offen über solche Themen.“ Maja nickt. Finja fand das Halbkreis-Sitzen super. Lilly ist froh, nicht krampfhaft etwas sagen zu müssen. Leonie schwärmt von der „anderen Atmosphäre“.

Auch die Jungs sind gut ohne Lehrer zurechtgekommen. Sie hätten viel zu Verhütung und praktischer Sexualität gefragt, berichtet Rau gegen 13 Uhr. Auch zu Pornografie. „Ein typisches Jungs-Thema. Denen ist schon klar, dass Pornos übertriebene Darstellungen sind, aber sie wollen trotzdem wissen, wie lang ein Mann kann.“ Und ob irgendwann „Schluss ist mit dem Sperma“.

Durch ihre Arbeit, erzählen die Sexpäds, sei auch schon sexueller Missbrauch aufgedeckt worden. Eine Schülerin habe sich einmal im Anschluss an die Veranstaltung ihrer Lehrerin anvertraut. „Bei Missbrauch ist das höchste Gebot, Ruhe zu bewahren“, sagt Reiche. Man schalte nicht sofort die Polizei, sondern erst eine Fachstelle ein. Auch jenseits von Notfällen beobachten die Sexpäds unberuhigende Tendenzen. Die mediale Dauerpräsenz von Sex übe einen enormen Druck aus. „Mädels stellen häufig fragen, die mit ‚muss‘ beginnen: Muss ich stöhnen, muss ich Analverkehr haben, etc.“, sagt Reiche. Viel seltener gehe es darum, was ihnen Spaß mache. Wobei die Art der Fragen auch von der Schulform abhängig sei. In der Gemeinschaftsschule würden sie mit direkteren Fragen regelrecht bombadiert – dafür sei die Geduld überschaubar, sagt Reiche: „Da fühle ich mich immer wie ein Fernsehkanal, der ständig weggezappt wird.“

 Sexualpädagogen Pro Familia

Sexualpädagogen Pro Familia

Foto: Fatima Abbas

Von Ungeduld wollen die Sexpäds an diesem Vormittag nichts wissen. In der 5. Stunde bieten sie noch Vier-Augen-Gespräche an. Das nutzen vier von 19 Jungs. Anders bei den Mädels: Judith und Co. hatten erst einmal keine Fragen mehr.

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