Das liberale Amerika ringt um Fassung

Washington · Bei den Demokraten sitzt der Schock über den Wahlsieg von Donald Trump immer noch tief. Landesweit gab es auch gestern Proteste. Manch einer trauert noch Hillary Clintons Konkurrenten Bernie Sanders nach.

Wuchtige Mauern. Eingänge, die an ein Gewölbe denken lassen. Früher war das mal ein Postamt, dann hat Donald Trump das historische Gebäude an der Pennsylvania Avenue von der amerikanischen Regierung gemietet, um daraus ein Luxushotel zu machen. Und nun wird es zu einem Fokus der Anti-Trump-Proteste.

Der abendliche Protest an der Pennsylvania Avenue, er ist ein Ventil, um spontan Frust abzulassen. Das liberale Amerika hat die Wahl verloren, und während in der überaus liberalen Stadt Washington manche noch in Schockstarre verharren, sagt Rita Gordon, dass sie in den nächsten Tagen noch sehr viel protestieren wird. Trump, schiebt sie hinterher, habe jede einzelne Bevölkerungsgruppe des Landes vor den Kopf gestoßen - "mit einer Ausnahme: weiße Männer".

Die meisten, die vorm Trump-Hotel demonstrieren, sehen es ähnlich, vielen wäre Bernie Sanders, Clintons linker Rivale, als Kandidat lieber gewesen. Nach Postern mit Hillarys Konterfei sucht man vergebens. Dafür gibt es rosafarbene Herzen, auf denen steht, dass man gegen Intoleranz aufstehen soll.

Am Weißen Haus brennen Kerzen, besser gesagt, im Park davor, denn das Haus selbst ist noch weiträumiger abgesperrt als sonst, weil Bautrupps demnächst die Tribünen für den Festzug der Amtseinführung aufstellen. Mit der Kerzenmahnwache will Yong Jung Cho, Tochter südkoreanischer Einwanderer , ein Zeichen setzen. An einem provisorischen Maschendrahtzaun bilden Studentinnen einen Kreis, um sich ihre Enttäuschung von der Seele zu reden. Es liege ja auch eine Chance darin, dass es Hillary nicht geschafft habe, spricht Sarah Taylor sich und den anderen Trost zu. Denn nun werde die erste Präsidentin der US-Geschichte eine Frau sein, die sie vielleicht wirklich inspiriere. Nur damit man sie nicht falsch verstehe, das Land sei mehr als bereit für eine Madame President, sagt Sarah Taylor. "Michelle 2020", ruft eine ihrer Kommilitoninnen. Worauf sich die Stimmung der Runde schlagartig aufhellt. Dass Michelle Obama sich dereinst fürs Oval Office bewirbt, hat die First Lady selber nie bestätigt, wie auch, es wäre ohnehin zu früh. Dennoch ist sie die Hoffnungsträgerin.

"An meine Tochter: Es wird dir gut gehen", betitelt Dana Milbank eine Kolumne in der "Washington Post". "Die Leute machen Witze, dass sie in ein anderes Land fliehen, aber Amerika bleibt das großartigste Land der Welt." Milbank, eine der Edelfedern des Hauptstadtblatts, sorgte für Aufsehen, als er Zeitungspapier verzehrte. Es wurde in kleine Fetzen zerrissen und mit nahrhaften Speisen vermengt, nachdem er Monate zuvor angekündigt hatte, falls sich seine Prognose als falsch erweise, werde er das Papier essen, auf dem sie gedruckt sei. Die Republikaner , lautete die Prognose, würden Donald Trump nie zu ihrem Präsidentschaftskandidaten küren. Nun ist Trump nicht nur Kandidat, sondern bald Staatschef.

Eine Lehrerin aus Washington spricht von ihrer Verzweiflung: Alles, was man den Kindern an Anstandsregeln beibringe, werde nun konterkariert durch einen Präsidenten, der sich einer derart vulgären Sprache bediene. Und auf dem Congressional Cemetery, einem historischen Friedhof in der Nähe des Kapitols, wird das Grab einer frühen Wegbereiterin des Frauenwahlrechts auf einmal zu einer Pilgerstätte. Belva Ann Lockwood kandidierte 1884 fürs Weiße Haus, 36 Jahre bevor Frauen in den USA zum ersten Mal abstimmen durften. Jemand hat eine Notiz hinterlassen, die sich wie eine Entschuldigung liest. "Es tut mir so leid. Wir haben es versucht, aber es ist uns nicht gelungen." Darunter steht, später in anderer Handschrift, ein einziges Wort. "Noch."

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