Neun weiße Kerzen und die Erinnerung an die Endlichkeit des Lebens

München · Führende Vertreter von Staat und Kirchen haben gestern in München der Opfer des Amoklaufs gedacht. Bundespräsident Gauck forderte die Deutschen auf, sich nicht dem Hass von Amokläufern und Attentätern zu unterwerfen.

Kurz nachdem im Liebfrauendom Jugendliche neun weiße Kerzen für die Opfer des Amoklaufs entzündet haben, tritt Dhari Hajer zum Gebet ans Mikrofon. Eindringlich wendet sich die Muslimin im katholischen Wahrzeichen Münchens an Allah. "Beschütze diese schöne Stadt und ihre Bewohner", betet Hajer. Auch für Deutschland erbittet sie Schutz - "und bewahre es davor, in einen Kreislauf des Hasses und der Gewalt zu verfallen". Die Sorge der Glaubensvertreterin des größten Teils der Amokopfer - die meisten waren Muslime - ist auch die von den christlichen Kirchenvertretern formulierte Sorge beim Gedenken an die Opfer des Amoklaufs vom 22. Juli.

Wie sich die Stimmung im Land nach dem Amoklauf von David S. und den zwei islamistischen Anschlägen von Würzburg und Ansbach entwickelt, treibt zudem die Politik so intensiv wie seit langem nicht um. Der Liebfrauendom ist überfüllt, zu den vielen Besuchern zählt auch Fernseh-Moderator Thomas Gottschalk . Die ersten Reihen der Kirche sind voll mit Politikern aus München und Berlin, dahinter sitzen einige der Angehörigen der neun von David S. erschossenen Menschen. Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU ) und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU ) kamen gemeinsam in die Kirche, an ihrer Seite Bundespräsident Joachim Gauck , Bundesverfassungsgerichts-Präsident Andreas Voßkuhle und Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD ). Das demonstrative Signal des Zusammenstehens gerade von Merkel und Seehofer wirkt allerdings nach den jüngsten Äußerungen des CSU-Vorsitzenden unecht.

Gauck äußert später in seiner Traueransprache Verständnis für Menschen, die sagten, sie seien verunsichert und sich fragten, "ob sie noch ins Konzert, ins Kaufhaus, in die Kirche gehen können." Aber Gauck warnt auch davor, sich von Amokläufern oder Attentätern einschüchtern zu lassen: "Sie werden uns nicht zwingen zu hassen, wie sie hassen." Die deutsche Gesellschaft werde bleiben, wie sie ist: "eine mitmenschliche, solidarische Gesellschaft". Was die Angehörigen der im Bereich des Olympia-Einkaufszentrums erschossenen Opfer von den Reden der Politiker und Geistlichen halten, bleibt an diesem Trauertag unklar. Sie werden weitgehend von Kameras und Öffentlichkeit abgeschirmt.

Den Tod wollen viele Menschen nicht in ihrem Leben haben, das stellt Heinrich Bedford-Strohm fest, Ratspräsident der Evangelischen Kirche. "Wir ertragen ihn nur im Spielfilm." Sein Schluss aus all den schlimmen Ereignissen: "Es ist nicht selbstverständlich, dass wir leben, dass wir unsere Lieben bei uns haben, unsere Zeit ist endlich, deswegen werft sie nicht weg", gibt er der Trauergemeinde mit auf den Weg. "Lebt bewusst und vergesst nicht, zu danken."

Der Bundespräsident lenkt bei aller Trauer den Blick auf den Täter, der sich nach seinem Amoklauf erschossen hatte. Er hatte schon länger unter psychischen Problemen gelitten. "Die Gesellschaft darf diese Menschen, gerade junge Menschen, nicht allein lassen und dulden, dass sie auf gefährliche Weise zu Randständigen werden."

Einen absoluten Schutz könne es aber nicht geben, Staatsorgane und Bürger müssten dafür sorgen, dass das zynische Kalkül der Gewalttäter nicht aufgehe. Gaucks beschließt seine Ansprache mit einem Appell: "Lassen Sie uns füreinander da sein - als Gemeinschaft, die den Toten Raum in der Erinnerung und den Lebenden Frieden bietet."

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Hintergrund Zur Verhinderung von Amokläufen sind nach Ansicht der Gießener Kriminologin Britta Bannenberg mehr Beratungsnetzwerke nötig - gerade für Schulen. "Sie brauchen Unterstützung durch geschulte Personen wie Präventionsbeamte der Polizei ", sagte sie rund eine Woche nach dem Amoklauf von München . Bannenberg und ihr Team analysierten für eine Studie Amoktaten in Deutschland seit 1990. Die Taten hätten verhindert werden können, "wenn Hinweise in den Schulen entsprechend zusammengeführt worden wären", erklärte sie. Zwar seien die Fälle unterschiedlich. "Aber einige Täter haben über zwei Jahre hinweg deutlichste Signale gesandt, dass sie so etwas vorhaben. Das wussten viele, es ist aber nicht zusammengeführt, nicht der Polizei gemeldet worden." dpa

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