„Kann ich das bekommen?“

Brüssel · Der große Gipfel-Krach mit David Cameron bleibt aus. Kanzlerin Angela Merkel bewegte sich sogar auf den abtrünnigen Premier zu. Doch für einen Kompromiss zu seinen Reformanliegen ist noch viel Arbeit zu tun.

Als am späten Donnerstagabend das Ringen begann, gab sich David Cameron noch einmal kämpferisch: "Die Unterhändler haben genug getan. Jetzt will ich den Chefs in die Augen sehen und wissen: Kann ich das bekommen", sagte der britische Premier, als es beim EU-Gipfel in Brüssel endlich um seine Wünsche ging. Vier große Reformbereiche hat der Brite vorgeschlagen, um die Gemeinschaft so umzubauen, dass er seinen Landsleuten beim Referendum, das möglicherweise schon im Spätsommer 2016 stattfinden könnte, den Verbleib in der Union empfehlen.

Als der 49-jährige Konservative viele Stunden später seine Ankündigung "Ich werde die ganze Nacht für Großbritannien kämpfen" wahr gemacht hatte, war er zufrieden: "Ich bin zuversichtlich, dass wir Lösungen finden können." Und selbst Gipfel-Chef Donald Tusk , der zuvor getönt hatte, "einige Teile der britischen Forderungen scheinen nicht hinnehmbar", bilanzierte die Gespräche mit den Worten: "Ich bin optimistischer als vor unserem Treffen".

Das gilt zumindest für drei der vier Forderungen aus London. Bürokratie-Abbau, Freihandel und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit gelten als unumstritten. Dass die nationalen Parlamente gegenüber der Union gestärkt werden sollen und europäische Entscheidungen ablehnen dürfen, stößt ebenfalls auf Unterstützung. Und auch die Erwartung, dass Nicht-Euro-Staaten keineswegs gezwungen werden sollen, Entscheidungen der Währungsunion mitzutragen, scheint erfüllbar.

Doch beim Versuch, EU-Ausländern bis zu vier Jahre Sozialleistungen vorzuenthalten, mauerten nicht nur Polen, Tschechen, Ungarn und Slowenen (also genau jene Länder, die sich in der Flüchtlingsfrage aus der Solidarität verabschiedeten), auch Frankreich und Deutschland legten sich quer. "Bei gutem Willen kann man auch hier Wege finden, die den verschiedenen Anliegen gerecht werden", erklärte Kanzlerin Angela Merkel. Wie das gehen könnte, hatte die gelernte Physikerin schon zuvor bei der Flüchtlingsfrage mit einem Ausflug in die Mathematik deutlich gemacht: "Man muss auf die Existenz der Exponentialkurve vertrauen." Jede Lernkurve beginne langsam, aber dann gehe es ganz schnell. Das gilt wohl auch für Cameron, der in dieser Nacht immer und immer wieder zu hören bekam, dass die "Grundpfeiler der EU" (Merkel), also Freizügigkeit und Nichtdiskriminierung, unangetastet bleiben müssten. Ratspräsident Donald Tusk untermauerte diesen Grundsatz: "Wir sind absolut davon überzeugt, dass wir hart bleiben müssen, wenn es darum geht, rote Linien und fundamentale Werte zu verteidigen."

Doch wo eine Kompromisslinie sein könnte, wenn Cameron bei den Sozialleistungen für EU-Bürger (es geht nicht um Flüchtlinge oder Asylbewerber) auf seiner Position beharrt, war bei diesem Gipfeltreffen nicht erkennbar. Frankreichs Staatspräsident François Hollande baute deshalb schon vor. Da ein Eingehen auf die Wünsche Londons nicht ohne Vertragsänderungen möglich scheint, sprach er sich für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten aus. "Eine Reihe von Staaten, die heute die Europäische Union darstellen, könnten die Möglichkeit haben, schneller voranzuschreiten." Dann habe man ein Basis-Europa und eines, das weiter gehe. Eine "Union à la Carte", in der sich jeder nur diejenigen Regeln aussuche, die ihm passen, werde Frankreich nicht zulassen. Premier Cameron muss sich also bis zum nächsten Gipfel gedulden. Der ist im Februar.

Meinung:

Cameron ohne Chance

Von SZ-KorrespondentDetlef Drewes

Die EU ist stets für Überraschungen gut. Da wird in einem Augenblick verbittert um Solidarität in der Flüchtlingsfrage gerungen, während die 27 Mitgliedstaaten im nächsten Augenblick geschlossen gegen London die Grundpfeiler der EU, also Freizügigkeit und Nichtdiskriminierung all ihrer Bürger, verteidigen. Auch wenn David Cameron nach den Beratungen über seine Reformwünsche so tat, als sei man auf einem guten Weg: Er ist kein Stück weitergekommen. Natürlich wehrt sich niemand gegen Bürokratie-Abbau oder mehr Wettbewerbsfähigkeit. Aber bei den Sozialleistungen für Zuwanderer hört der Spaß auf. London will sie erst nach Jahren zahlen, die EU kann das nicht zulassen, ohne ihre Werte zu riskieren.

Zum Thema:

Am RandeFlüchtlinge: Die EU-Staaten wollen zum nächsten Sommer mit einer effektiven Grenzschutzpolizei die europäischen Außengrenzen besser sichern. Bis Ende Juni 2016 sollen umstrittene Details geklärt werden. Energiepolitik: Im Streit um den geplanten Ausbau der Gaspipeline Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland hat Kanzlerin Angela Merkel einen kritischen Passus in der Schlusserklärung verhindert. Vor allem ost- und mitteleuropäische Länder sehen das Projekt skeptisch. Wirtschafts- und Währungsunion: Die EU will die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion vorantreiben. Der deutsche Widerstand gegen eine gemeinsame Einlagensicherung für die europäischen Banken bleibt ungebrochen. Zunächst sollen alle EU-Länder eine eigene Einlagensicherung aufbauen, so die Bundesregierung. dpa

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