Atomenergie Frankreichs strahlendes Sorgenkind

Paris · Die Atomindustrie war einst Frankreichs Stolz. Inzwischen sind die Konzerne hoch verschuldet und in den altersschwachen Atomkraftwerken häufen sich die Pannen.

Es ist der 6. Dezember 1961: Das französische Fernsehen zeigt das erste Atomkraftwerk des Landes. „Das sind die Bilder der Zukunft“, kommentiert der Sprecher die Schwarz-Weiß-Bilder der Baustelle im zentralfranzösischen Chinon.

Mehr als 50 Jahre später stehen drei Reaktoren der Anlage längst still, und Chinon macht ganz andere Schlagzeilen: In der Anlage solle erstmals ein Reaktor zurückgebaut werden, entschied die Atomaufsicht ASN. Die Entwicklung zeigt, dass die Atomindustrie, einst der Stolz Frankreichs, zum strahlenden Sorgenkind geworden ist. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass eines seiner altersschwachen Atomkraftwerke in die Schlagzeilen gerät. Auch die ASN schlägt Alarm, denn in 29 Reaktoren rosten die Leitungen der Kühlsysteme. Im Falle eines Erdbebens können sie bersten und damit eine Katastrophe wie in Fukushima verursachen. In 20 Reaktoren, darunter im ohnehin pannenanfälligen Cattenom unmittelbar an der Grenze zum Saarland (siehe nebenstehender Text), sind die Schäden so stark, dass die Experten von einem Zwischenfall der Stufe zwei auf der siebenstelligen INES-Skala sprechen.

„Die Situation ist schwierig und besorgniserregend“, warnte ASN-Chef Pierre-Franck Chevet, zu Jahresanfang. „Wir können nicht alle Reaktoren vom Netz nehmen, weil es Unregelmäßigkeiten gibt.“ Keine sehr beruhigende Aussage für Frankreich, das mit 58 Reaktoren der größte Atomstromproduzent Europas ist. Das Land hatte den Ausbau der Atomindustrie in den 60er und 70er Jahren vorangetrieben, um in der Energieversorgung unabhängig zu sein. Doch seit Fukushima sind die einst in alle Welt exportierten Atomkraftwerke zu Ladenhütern geworden.

Bestes Beispiel dafür ist der moderne Druckwasserreaktor EPR, mit dessen Entwicklung zur Jahrhundertwende begonnen wurde. Als Aushängeschild einer neuen Generation von Atomkraftwerken gedacht, wirkt der EPR inzwischen eher wie das Leck geschlagene Flaggschiff einer untergehenden Flotte. Im finnischen Olkiluoto, wo der Bau vor zwölf Jahren begonnen wurde, ist der Reaktor immer noch nicht am Netz. Immer neue Pannen verzögern den Betrieb, der eigentlich für 2009 geplant war und nun im nächsten Jahr endlich Wirklichkeit werden könnte. Die Kosten explodierten in dieser Zeit von ursprünglich 3,2 auf 8,5 Milliarden Euro.

Ähnlich teuer wird der EPR in Flamanville am Ärmelkanal, der Ende 2018 in Betrieb gehen soll. Die ASN hatte dafür grünes Licht gegeben, obwohl in den Reaktordeckel fehlerhafter Stahl eingebaut wurde. Der hohe Kohlenstoffanteil macht den aus der französischen Schmiede Creusot stammenden Stahl brüchig. „Es ist unverantwortlich, den Betrieb eines Atomkraftwerks bewusst mit fehlerhaften Bauteilen zu starten“, kritisiert Susanne Neubronner, Atomexpertin von Greenpeace Deutschland. „Das ist ganz klar wirtschaftlich getrieben.“

Denn der Betreiber EDF pumpte immer wieder frisches Geld in den Druckwasserreaktor. 10,5 Milliarden Euro kostete das Projekt den staatlichen Stromriesen – dreimal mehr als geplant. Dazu hat das Unternehmen in den kommenden Jahren auch noch die Kosten seiner altersschwachen Meiler zu tragen: 21 von ihnen erreichen nach 40 Jahren das Ende ihrer Laufzeit. 50 Milliarden Euro veranschlagt EDF für eine Modernisierung; der Rechnungshof kalkuliert eher das Doppelte. Cyrille Cormier von Greenpeace Frankreich warnt: „Dem Konzern droht der Bankrott.  Die einzige Lösung, die sich aufdrängt, ist der Atomausstieg und die Investition in erneuerbare Energien.“

Vor zwei Jahren hatte sich Frankreich ein Energiewendegesetz gegeben, das den Anteil der Atomenergie am Strommix bis 2025 von derzeit rund 75 Prozent auf 50 Prozent verringern soll. Gleichzeitig soll der Anteil an Erneuerbaren bis 2030 auf 40 Prozent ansteigen. Von dem ehrgeizigen Ziel ist das Land allerdings noch weit entfernt: laut Umweltministerium lag der Anteil von Wind, Sonne und Co. am Bruttostromverbrauch bei knapp 20 Prozent.

Mit Nicolas Hulot hat Frankreich seit Mai erstmals einen Umweltminister, der sich klar für einen Atomausstieg ausspricht. „Fukushima hat mich überzeugt, dass die Atomenergie nicht die Lösung für die Energie-Zukunft unseres Planeten sein kann“, sagte der überzeugte Umweltschützer 2011 nach der Katas­trophe in Japan. „Aus der Atomenergie auszusteigen, ist ein vorrangiges Ziel.“ Als Minister ist er allerdings vorsichtiger geworden. 17 Reaktoren will er abschalten, um das 50-Prozent-Ziel bis 2025 zu erreichen. Wie und wann genau, sagt Hulot nicht. Auf die Frage, ob in der Amtszeit von Präsident Emmanuel Macron Atomkraftwerke stillgelegt würden, antwortete er in einem Zeitungsinterview: „Natürlich. Und wenn es nur Fessenheim ist.“ Das älteste Atomkraftwerk Frankreichs liegt nur rund 25 Kilometer von Freiburg entfernt.

Die Warnungen der lange belächelten Atomkraftgegner scheinen im Atomstromland Frankreich allmählich Wirkung zu zeigen: In einer Umfrage sprachen sich im vergangenen Jahr 47 Prozent der Befragten für die Schließung von Atomkraftwerken aus.

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