Wer wollte nicht ein selbstbestimmtes Leben?

Deutschlands größter Dichter Goethe, so wie ihn keiner kennt: In seinem Buch „Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist“ (DVA, 288 S., 19,99 €) zeigt Stefan Bollmann den Meister aus neuen Perspektiven. Bollmann studierte Literatur, Geschichte und Philosophie und promovierte über Thomas Mann. Nach einigen Jahren als Hochschullehrer und Kleinverleger arbeitete er als Sachbuch-Lektor in Publikumsverlagen, zurzeit bei C.H. Beck. SZ-Mitarbeiter Günter Keil sprach mit dem 56-Jährigen.

 Er sieht nicht nur modern aus, er ist es: Andy Warhols Siebdruck von Goethe (1747-1832). Foto: dpa

Er sieht nicht nur modern aus, er ist es: Andy Warhols Siebdruck von Goethe (1747-1832). Foto: dpa

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Warum haben Sie sich ausgerechnet Goethe noch einmal neu vorgenommen?

Bollmann: Goethe ist eine Institution, nicht nur in Deutschland, eigentlich in der gesamten Weltliteratur. Obwohl er beinahe zu Tode interpretiert worden ist, hat mich an ihm gereizt, dass man ihm immer noch neue, unbekannte Seiten abgewinnen kann.

Welche denn?

Bollmann: Seltsamerweise ignorieren wir etwa die sexuellen Fantasien des jungen Goethe, obwohl er selbst darüber geschrieben hat. Wir unterschätzen oft seinen Unabhängigkeitsdrang und Erfahrungshunger, obwohl es dafür großartige Zeugnisse gibt. Und wir sehen nicht, dass es für ihn das Wichtigste war, ein eigenes Leben zu führen. In dieser Radikalität und Konsequenz wie Goethe hat das vor ihm noch niemand versucht - und damit hat er auch heute noch jungen Leuten etwas zu sagen.

Kann ein Mann, der 1749 geboren wurde, uns heute wirklich noch Ratgeber sein?

Bollmann: Goethe zeigt uns bis heute, wie man ein Leben führt, das wirklich ein eigenes Leben genannt werden kann. Und wollen wir das nicht alle? Er ist in einer Umbruchzeit groß geworden: Der Siebenjährige Krieg von 1756 bis 1763, der so etwas wie ein erster Weltkrieg war, hatte dazu geführt, dass sämtliche Traditionen und Orientierungsmuster abwirtschafteten. Goethe sprach von einer "nullen Epoche": Man musste sich selbst neu erfinden, für die eigenen Gefühle und Gedanken eine neue Sprache kreieren. Eine ungeheure Herausforderung für einen jungen Mann, die er mutig angenommen hat.

Sie schreiben, dass uns Goethe vor allem wertvolle Ratschläge für das Liebesleben liefern kann. Wie kommen Sie darauf?

Bollmann: Ein sehr konkreter Rat ist sicherlich, sich niemals aus Liebeskummer umzubringen. Goethes Werther tut das zwar, aber Goethe selbst hat das als einen Stellvertretertod gesehen. Er ließ seine Romanfigur sterben, um selbst am Leben bleiben zu können. Schreiben war hier so etwas wie Krisenbewältigung, Therapie. Ein weiterer Tipp ist, die Liebe nicht zu unterschätzen. Letztlich, so meine Goethe, entscheidet die Liebe über Wohl und Wehe unseres Lebens. Dabei muss Liebe nicht einmal unbedingt erwidert werden. Eine seiner Frauenfiguren, ein sehr liebenswertes Luder, lässt er sogar sagen: "Wenn ich dich liebe, was geht's dich an."

Warum bezeichnen Sie Goethe in einem Kapitel Ihres Buches als einen "Befreier"?

Bollmann: Es gibt eine kleine Schrift, die Goethe in seinem letzten Lebensjahr geschrieben hat und die erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Darin wendet sich der über 80-Jährige an die jungen Leute seiner Zeit und bietet ihnen an, nicht ihr Meister zu sein, dem sie blind folgen sollen, sondern ihr Befreier. Und Befreiung, das meinte für Goethe immer in erster Linie Selbstbefreiung, auch im Sinne von: sich zu sich selbst befreien.

Für die damalige Zeit klingt das ziemlich radikal..

Bollmann: Ja, Goethe meinte das wirklich so. Das Wichtigste im Leben, da war er sich ganz sicher, sei lebendig zu sein und lebendig zu bleiben.

Welchen Bezug haben Sie privat zu Goethe?

Bollmann: Ich habe ihn durch den Werther, den Wilhelm Meister und die Wahlverwandtschaften, seine drei großen Romane, kennen und lieben gelernt. Alle drei sind Lebensbücher, zu denen man im Laufe des Lebens immer wieder greifen kann und sie dann im jeweiligen Kontext auch anders liest. Sie sind von einem ungeheuren Reichtum der Bezüge und dabei wahnsinnig schön geschrieben. Und wenn man sich darauf einlässt, kein bisschen verstaubt.

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