„Die deutsche Kritik tut sich schwer mit Patriotismus“

Die Anschläge vom 11. September 2001 sind eine historische Zäsur, die auch in Filmen, Literatur und Comics Spuren hinterlassen hat. In der Fiktion können Traumata zumindest erzählbar gemacht werden, sagt der Saarbrücker Kulturwissenschaftler Thomas Schmidtgall. Er hat fiktionale Werke aus den USA sowie deren Kritik in 350 Artikeln aus spanischen, französischen und deutschen Zeitungen ausgewertet. Über seine Ergebnisse sprach er mit SZ-Redakteur Johannes Kloth.

Was war das Ziel Ihrer Arbeit?

Schmidtgall: Die Ursachen und die Bedeutung des 11. September werden in verschiedenen Ländern zum Teil sehr unterschiedlich gesehen. Mich interessiert vor allem, welche Rolle der kulturelle Hintergrund bei der Wahrnehmung der Anschläge spielt.

Welche fiktionalen Werke haben Sie untersucht?

Schmidtgall: Zunächst "World Trade Center" von Oliver Stone und "United 93" von Paul Greengrass - zwei Hollywood-Produktionen völlig unterschiedlicher Machart. Der Stone-Film ist ein klassischer Hollywood-Katastrophenfilm, der an US-Mythen wie Heldentum, Patriotismus und den Wert der Familie appelliert. "United 93" ist ein fiktionaler Film, der wie ein Dokumentarfilm daherkommt. Angesichts der einstürzenden Türme hat man oft den Satz gehört "Das ist ja wie im Film", die Live-Bilder erinnerten stark an Hollywood, waren aber real. Damit umzugehen, versuchen die Filme auf ihre Weise. Als Roman habe ich "Ex- tremely Loud & Incredibly Close" von Jonathan Safran Foer gewählt über einen Jungen, der seinen Vater bei den Anschlägen verliert. Dazu kam die Comic-Serie "In the Shadow of No Towers" von Art Spiegelman. Er verarbeitet sein ganz persönliches Trauma und übt scharfe Kritik an der US-Politik. Keine Zeitung in den USA wollte den Comic drucken, er erschien in der deutschen "Zeit".

Haben sich die Kritiker-Reaktionen in Europa stark von denen in den USA unterschieden?

Schmidtgall: Einerseits gibt es einen gemeinsamen Blick auf das Ereignis selbst: Sowohl in den USA als auch in Deutschland, Frankreich und Spanien ist oft die Rede von "Trauma", "Tragödie", "Drama" oder "Katastrophe". Die fiktionalen Deutungen werden allerdings sehr unterschiedlich wahrgenommen. Je stärker US-amerikanische Werte transportiert werden, desto stärker reiben sich europäische Kritiker daran. In den USA spielen Hollywoodfilme bei der Verarbeitung historischer Ereignisse eine große Rolle, das wird von Europäern oft nicht verstanden.

Warum?

Schmidtgall: Es gibt einen unterschiedlichen Erfahrungshintergrund. Europäer haben eine jahrhundertelange Kriegs- und Gewalterfahrung verinnerlicht. Für Amerikaner war der 11. September das erste Mal, dass sie - abgesehen von Pearl Harbor - auf eigenem Territorium von außen angegriffen wurden.

Inwiefern hat sich die NS-Vergangenheit in deutschen Rezensionen widergespiegelt?

Schmidtgall: Viele deutsche Kritiker tun sich mit dem in "World Trade Center" dargestellten Patriotismus und Heldentum schwer. Vor allem der Begriff "Heroismus" wird von den Kritikern gedreht und gewendet, definiert und genau beleuchtet. Man arbeitet sich förmlich daran ab, weil der Heldenbegriff seit dem Zweiten Weltkrieg ein problematischer ist. Interessant ist trotzdem, dass die deutschen Kritiker die US-amerikanische Perspektive an vielen Stellen zwar nicht teilen, sie aber aus US-amerikanischer Sicht verstehen können. Das hat sicher auch mit der engen Beziehungen der Länder seit der Nachkriegszeit zu tun.

Wie sieht es in Frankreich aus?

Schmidtgall: Ganz anders. Frankreich steht - historisch gesehen - in einem Konkurrenzverhältnis zu den USA. Beide Nationen beanspruchen seit ihren Revolutionen die Universalität ihrer Werte wie der Menschenrechte. Man sieht, dass die französischen Kritiker zum Beispiel mehrheitlich den US-Patriotismus ablehnen, ihn aber im Gegenteil zu den deutschen Kritikern für das eigene Land nachvollziehen können.

In Spanien wurde Oliver Stones Film erstaunlicherweise besonders heftig abgelehnt…

Schmidtgall: Ja. In Spanien scheint das kulturelle Wissen über die USA im Vergleich zu Deutschland und Frankreich deutlich geringer zu sein. Hier spielt wohl auch eine gewisse Isolierung Spaniens während des Franco-Regimes eine Rolle, aber auch der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und der Verlust von Kolonien an die USA. Unterm Strich kann man sagen: Die kulturelle Nähe zu den USA ist in Deutschland am größten, gefolgt von Frankreich, mit deutlichem Abstand vor Spanien.

Thomas Schmidtgall: Traumatische Erfahrung im Mediengedächtnis. Zur Struktur und interkulturellen Rezeption fiktionaler Darstellungen des 11. September 2001 in Deutschland, Frankreich und Spanien. Königshausen & Neumann, 614 S., 78 Euro.

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