Der Ferne, er ist so nah, das Leben, es ist so literarisch

Saarbrücken

Saarbrücken. Man muss nicht Hans-Ulrich Treichels Roman "Der Verlorene" gelesen haben, um all die Nuancierungen und innerliterarischen Winkelzüge seines neuen Romanes zu verstehen - er heißt "Anatolin" und erzählt mit viel, viel Hintersinn von der Suche nach einem 1945, auf der familiären Flucht aus dem Osten, verschollenen Bruder, der bereits in "Der Verlorene" vergeblich herbeigeschrieben wird.

Auch ohne diese werkimmanenten Querverweise wird deutlich, dass Treichel in "Anatolin" ein äußerst raffiniertes Spiel mit dem treibt, was man so leichtfertig autobiografisches Erzählen nennt. In "Anatolin" beginnt es damit, dass er einen Ich-Erzähler auftreten lässt, der sich als Autor von Treichels Romanen "Der Verlorene" (1998) und "Menschenflug" (2005) ausgibt. Und der irgendwann bekennt, dass "jenes Selbst, dem man im eigenen Text begegnet, immer ein anderes und fremdes" ist.Weshalb es im Grunde dann doch um die Dialektik von Literatur und Leben geht. Der Bruder bleibt auch diesmal verschwunden, er wird aber gewissermaßen literarisch neu erfunden. Der Bruder muss zwar weiter als tot gelten, wird aber in Treichels Spiel mit den biografischen Möglichkeiten vergegenwärtigt.

Treichels Erzähler leidet am "Morbus biographicus", dem Verschwinden der eigenen Lebensgeschichte. Was den literarischen Imperativ erklärt, diese Leerstellen zu schließen. Als Erinnerungsmensch ist er gewissermaßen mittellos. Was er im Romanverlauf familienhistorisch aus der elterlichen Notwendigkeit erklärt, nach dem Verschwinden ihres Sohnes dieses Lebensunglück (und später noch wesentlich mehr) aus dem inneren Gesichtskreis zu rücken. Fuhr Treichels Erzähler in "Menschenflug" an den Geburtsort des Vaters in der Ukraine, um sich selbst näherzukommen (und dort seinem vermeintlichen Bruder zu begegnen), so begibt er sich in "Anatolin" an den biografischen Ausgangspunkt der Mutter in Polen. Eine leere Straße wird er finden, die vielleicht gerade deshalb als Resonanzraum so dienlich ist. Auch einen möglichen Bruder wird er wieder finden - einst vom Suchdienst des Roten Kreuz als Findelkind 2037 etikettiert. Ein Gentest aber hält den Bruder weiter als Abwesenden am Leben. So bleibt der Fernste für Treichel und seinen Bauchredner weiterhin der Nächste.

Erzählt wird all dies (wie so oft bei Treichel) mit solcher Leichthändigkeit und süffisanten Komik, die unser einen beflügelt, während sie Treichels Erzähler seine verhasste "Subjektlast" mühelos abschütteln lässt. "Ich bin noch nicht einmal sicher, ob ich überhaupt Eltern hatte", bilanziert er. Dialektischer geht's nicht.

Hans-Ulrich Treichel: Anatolin. Suhrkamp, 189 S., 17,80 €

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