„Mutter Mutter Mutter in meinem Gehirn“

Seinem Figuren-Kosmos der Skeptiker, Zweifler und Erfolgsvermeider fügt Autor Hans-Ulrich Treichel einen neuen Antihelden hinzu: Franz ist ein mäßig erfolgreicher Reiseschriftsteller mit übermäßigem Mutterkomplex.

Franz, der Ich-Erzähler des neuen Romans von Hans-Ulrich Treichel, passt perfekt in das Figurenensemble im Prosawerk des Schriftstellers. Wie eine große Familie von Zweiflern und Skeptikern, von depressiven Erfolgsvermeidern und alltagsuntüchtigen Melancholikern wirken all diese Figuren; ob es sich nun um den Kunststudenten Albert im Roman "Der irdische Amor" handelt oder um Stephan in "Menschenflug", ob um Paul in "Grunewaldsee" oder um den Ich-Erzähler in Treichels meisterhaftem Roman "Der Verlorene". Sie alle haben ihr Päckchen zu tragen, leiden an der Welt und an sich selbst, an den Beschädigungen ihrer Seele oder vielleicht nur daran, dass sie einen Blick auf sich selbst haben, als schauten sie durch ein Mikroskop.

Auch Franz, ein Mittvierziger und von Beruf Reiseschriftsteller , freilich nur mit mäßigem Erfolg, spürt seiner psychischen Befindlichkeit nach. Bereits der Titel des Romans "Frühe Störung" verweist auf das Problem, das Franz jahrelang auf die Couch eines Psychoanalytikers geführt hat. Es heißt: "Mutter Mutter Mutter in meinem Gehirn ." Auch ihr Tod ändert daran nichts. Franz kommt nicht los von ihr, ihre Stimme hat sich in seinem Ohr eingenistet, sie begleitet ihn auf Schritt und Tritt, es gibt kein Entrinnen für ihn. Dabei lebt Franz gar nicht schlecht von der Erbschaft, die die Mutter ihm hinterlassen hat. Aber für Leute wie ihn "war das Beerben der Mutter wahrscheinlich das pure Gift". Es bedeutete permanente Erinnerung an Erfahrungen und Erlebnisse in der Kindheit, vor allem an den erzwungenen gemeinsamen Mittagschlaf mit der Mutter, währenddessen der kleine Franz zum Forscher wurde und seine Augen "zu einem Mikroskop", wodurch er "dem Furchtbaren begegnet: den Speichelfäden, die aus dem Mund der Mutter tropften, den kleinen schwarzen Härchen, die ihr aus der Nase wuchsen, den Löchern in den geröteten Ohrläppchen, dem betäubendem Atem ihres Mundes, dem trockenen Schnarchen ihrer Kehle und ihrem warmen Bauch, der sich an mich drängte".

Ein Kindheitstrauma fürwahr, ein ungelöstes Problem von Nähe und Distanz, daran ändert auch nichts die forsche Fotografin Andrea, mit der Franz eine kaum verlässliche Beziehung eingeht. Für Treichels Figurenkosmos ist Glück ohnehin nicht vorgesehen. Worüber sollten die Tagträumer und Zauderer auch sonst räsonnieren, wenn nicht über ihre psychische Grundausstattung, die geprägt ist von Schuld und Scham. Es gibt ihnen die Gelegenheit, im wunderbaren Treichel-Sound Beobachtungen zu machen, die sie vom Hölzchen aufs Stöckchen führt, die Gedanken, wie auf der Couch des Analytikers, mäandern zu lassen, Überlegungen anzustellen, für die sie selbst sofort eine Entgegnung parat haben. Diesem Gedankenfluss konnte man sich in Treichels bisherigen Romanen genüsslich überlassen. Doch leider ist in "Frühe Störung" nur die Form geblieben, die pointierte, präzise Sprache und das wie mühelos erscheinende Ineinanderfließen der Erzählstränge. Die Geschichte selbst trägt nicht die knapp 200 Seiten, bei deren Lektüre man vergeblich darauf hofft, dass da noch etwas mehr kommt als immer weitere Variationen des Themas. Schade.

Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung. Suhrkamp Verlag,

189 Seiten, 18,95 Euro.

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