Keine Gnade mit dem Monster

Brüssel. Auf diesen Satz hat ganz Belgien gehofft: "Eine elektronische Fußfessel wird Herrn Dutroux nicht gewährt", wies das Brüsseler Strafberufungsgericht gestern den Antrag des mehrfachen Kindesmörders auf vorzeitige Haftentlassung ab. Es fand sich niemand, der glauben wollte, dass Marc Dutroux (56) sich in den Jahren seiner Haft seit 2004 verändert haben könnte

Brüssel. Auf diesen Satz hat ganz Belgien gehofft: "Eine elektronische Fußfessel wird Herrn Dutroux nicht gewährt", wies das Brüsseler Strafberufungsgericht gestern den Antrag des mehrfachen Kindesmörders auf vorzeitige Haftentlassung ab. Es fand sich niemand, der glauben wollte, dass Marc Dutroux (56) sich in den Jahren seiner Haft seit 2004 verändert haben könnte. Nicht einmal seine Mutter. Zum ersten Mal äußerte sich Jeannine Dutroux (78) gestern öffentlich über ihren Sohn: "Ich bin sicher, dass er wieder beginnen würde zu töten", erklärte sie in dem Interview der belgischen Tageszeitung "Le Soir Magazine". Zuvor hatten sein Anwalt sowie mehrere Gutachter der Bitte um vorzeitige Haftentlassung widersprochen.Dutroux war vor zwei Wochen persönlich vor dem Tribunal erschienen, um den Antrag auf vorzeitige Entlassung zu stellen. Demnach wollte er künftig - elektronisch überwacht - im Hausarrest leben. Das Gericht begründete die Ablehnung des Antrags mit der "fehlenden Aussicht auf eine Wiedereingliederung" Dutroux' in die Gesellschaft. Der Häftling habe keine Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungssuche. In einem "belgischen Jahrhundertprozess" hatte Dutroux nur die Taten gestanden, die ihm nachgewiesen wurden. Das Urteil lautete 2004: Lebenslange Haft. Der heute 56-Jährige glaubt aber fest daran, eines Tages wieder frei zu sein. Im September 2012 hat Dutroux einen Antrag auf vorzeitige Entlassung - überwacht durch eine Fußfessel - gestellt. Dies ist nach belgischem Recht möglich. Kurz zuvor war seine Ex-Frau Michelle Martin freigekommen und lebt seitdem in einem Kloster. Bis heute hat sich Dutroux nicht von seinen Taten distanziert oder Reue gezeigt. Die ohnehin aufgewühlte belgische Öffentlichkeit musste stattdessen erfahren, dass der Häftling, der in einem Gefängnis rund 25 Kilometer südlich von Brüssel einsitzt, inzwischen zu einem reichen Mann geworden ist.

Erfolg im Börsenhandel

Er handelt nämlich offenbar überaus erfolgreich an der Börse. Sein Sohn dient ihm als verlängerter Arm, mit dem er mehrmals am Tage telefoniert. Die Erlöse aus den Geschäften wandern jedoch ausnahmslos auf das Konto des jungen Dutroux, so dass der Kindesmörder bis heute keinen Cent an Entschädigung oder Schmerzensgeld an die beiden überlebenden Opfer und die Angehörigen der ermordeten Mädchen gezahlt hat. Gleiches soll im Übrigen auch für seine frühere Ehefrau und Mittäterin Michelle Martin (53) gelten, die im Sommer vergangenen Jahres frühzeitig entlassen wurde und nun in einem Kloster bei Namur lebt. Auch sie habe durch diverse Geschäfte ein kleines Vermögen angehäuft, es jedoch so angelegt, dass die Ansprüche der Geschädigten nicht befriedigt werden können, heißt es in Brüssel.

Inzwischen hat das belgische Parlament unter dem Eindruck der Freilassungsgesuche ein neues Gesetz verabschiedet, das allerdings nicht rückwirkend gilt. Demnach müssen bei einer 30-jährigen Haftstrafe zunächst 23 (bisher 15) Jahre vergehen, bevor eine vorzeitige Entlassung beantragt werden kann. Im Falle Dutroux hätte aber auch dieses Gesetz vermutlich kaum helfen können. Denn die Richter hatten 2004 verfügt, dass der Mann auch nach Ablauf seiner Haft noch mindestens zehn Jahre in Sicherungsverwahrung gehalten werden muss. Zur Ruhe wird Belgien deshalb nicht kommen.

Noch immer sind zu viele Rätsel um die grausamen Taten ungelöst. Im Vorfeld der damaligen Verhandlungen verschwanden Beweisstücke. Andere wurden gar nicht berücksichtigt. Mehr als 20 Zeugen starben auf mysteriöse Weise. Inzwischen neigen immer mehr Menschen dazu, Dutroux wenigstens in einem Punkt zu glauben: Er habe die Taten wohl alleine begangen, aber er sei eben auch Helfer und "Lieferant" eines pädophilen Netzwerkes gewesen, dem er regelrecht Opfer zugeführt habe. Entsprechende Spekulationen sind zwar nicht neu, wurden aber bisher von den Sicherheitsbehörden nie wirklich geprüft. Stattdessen gingen die staatlichen Ermittler sehr viel häufiger gegen Journalisten und Buchautoren vor, die entsprechende Indizien aufgegriffen und recherchiert hatten.

Archiv-Foto: dpa

Meinung

Wohltuend unnachsichtig

Von SZ-KorrespondentDetlef Drewes

Das nüchterne und geschäftsmäßige "Nein" der fünf Richter tut gut. Besonders, weil es einstimmig und unzweideutig ausgefallen ist. Belgien leidet bis heute unter dem, was Marc Dutroux seinen Opfern auf bis dahin fast unvorstellbar grausame Weise angetan hat. Das Land ist aufgewühlt, weil es immer noch daran zweifelt, dass bei der polizeilichen und justiziellen Aufarbeitung alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Was auch immer man unter dem Begriff "Aufarbeitung" verstehen könnte, es blieb bis jetzt aus. Dutroux steht deshalb nicht nur für seine Taten. Er ist mit seiner Unfähigkeit zur Einsicht zugleich ein Symbol für die Unfähigkeit der Gesellschaft, Konsequenzen zu ziehen. Dutroux selbst ist offenbar in der Lage, aus dem Knast heraus Aktiengeschäfte zu tätigen. Obwohl er bis heute alle Ansprüche auf Entschädigung und Schmerzensgeld unbefriedigt lässt. Die ganze Affäre steckt voller Widersprüche und Unfassbarkeiten.

Hintergrund

4. Februar 1986: Dutroux und Michelle Martin werden wegen Vergewaltigungen verhaftet.

26. April 1989: Verurteilt zu 13 Jahren und sechs Monaten Haft wegen Vergewaltigung und Entführung, kommt Dutroux 1992 wieder frei.

24. Juni 1995: Eine neue Entführungsserie beginnt. Die Mädchen Julie Lejeune (8) und Mélissa Russo (8) verschwinden spurlos, am 22. August auch An Marchal (17) und Eefje Lambrecks (19). Sie sterben in Dutrouxs Kellerverlies.

28. Mai 1996: Die zwölf Jahre alte Sabine Dardenne verschwindet.

9. August 1996: Die 14-jährige Laetitia Delhez wird entführt.

13. August 1996: Dutroux, Martin und ihr Komplize Michel Lelièvre werden festgenommen. Nach Geständnissen von Lelièvre und Dutroux werden Laetitia Delhez und Sabine Dardenne aus Dutrouxs Keller befreit.

23. April 1998: Dutroux flüchtet bei einem Gerichtstermin in Neufchateau und wird drei Stunden später gefasst.

1. März 2004: Der Mordprozess gegen Dutroux und drei Mitangeklagte beginnt.

22. Juni 2004: Das Gericht verurteilt Dutroux zu lebenslanger Haft, Ex-Frau Martin erhält als Mittäterin 30 Jahre Gefängnis.

31. Juli 2012: Ein Gericht entscheidet, dass Martin vorzeitig freikommt und künftig in einem Kloster in Malonne leben darf.

28. August 2012: Ein Berufungsgericht lehnt den Widerspruch von Opferfamilien ab. Martin kommt vorzeitig frei.

14. September 2012: Dutroux stellt einen Antrag auf vorzeitige Entlassung aus dem Gefängnis.

4. Februar 2013: Bei einer Anhörung im Brüsseler Justizpalast berät ein Gericht erstmals über diesen Antrag. dpa

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