Westminster im Nebel

London · In Großbritannien steht eine der spannendsten Wahlen der jüngeren Geschichte bevor. Alles deutet darauf hin, dass keine der beiden Volksparteien eine Mehrheit im Parlament erreichen wird. Die Nerven liegen bereits blank.

Als Ostdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg im Stalin-Kult taumelte, blieb oftmals ein Sitz frei im Präsidium der Partei-Sitzung. Der war für den "großen Vorsitzenden" reserviert - für den Fall, Stalin würde sein Recht wahrnehmen, persönlich zu erscheinen. Im Großbritannien des Jahres 2015 könnte auch ein Stuhl frei bleiben: Die Parteien in der ältesten Demokratie der Moderne können sich in endlosen Debatten seit Wochen nicht einigen, wer wann gegen wen zu Fernsehdebatten antritt. 100 Tage vor der Abstimmung ist der Wahlkampf auf der Insel schon auf dem Weg, zu einer Farce zu werden, noch ehe er richtig losgegangen ist. Der amtierende Premierminister David Cameron wirkt auf viele Briten in dem Streit nicht gerade wie ein großer Vorsitzender, sondern eher wie ein sturköpfiger Teenager. "Wenn die Grünen nicht teilnehmen dürfen, dann komme ich auch nicht", sagt er. Die übertragenden Fernsehsender drohen inzwischen offen: Wenn einer der Teilnehmer nicht kommen will, dann bleibe eben sein Platz frei.

Der Zwist um die Fernsehdebatte zeigt, wie blank die Nerven in Westminster liegen. Die parteipolitische Landschaft ist völlig unüberschaubar, nach dem Wahltag am 7. Mai erscheint alles möglich. Demoskopen rechnen seit Wochen alle denkbaren Farbenspiele durch und kommen zum Ergebnis: Nichts Genaues weiß man nicht.

Wer den Fokus auf den Schlagabtausch zwischen den Spitzenkandidaten, Premierminister David Cameron und Oppositionsführer Ed Miliband , legt, sollte den Blickwinkel vergrößern. Dieses Mal könnten vor allem die Parteien aus Populisten und Protestlern - wie die EU-feindliche Unabhängigkeitspartei Ukip oder die Schottische Nationalpartei SNP - den Ausschlag geben. Ein Problem für das Königreich, denn das System des Mehrheitswahlrechts sieht eine Einparteiregierung vor und grenzt kleine Parteien zugunsten großer aus. Weder Labour noch die Konservativen werden aber laut Meinungsforscher eine Mehrheitsregierung bilden können. Auch wenn die Situation jener von vor fünf Jahren ähnelt, als die Siegerpartei erstmals nach rund sieben Jahrzehnten eine formale Koalition eingehen musste, ist sie doch eine andere. Dieses Mal konkurriert eine Handvoll kleinerer Parteien um die Rolle des Züngleins an der Waage. Am Ende könnte es sein, dass der Premier mit mehreren Partnern regieren muss.

"Wenn meine Vorhersagen einigermaßen zutreffen, kann die Politik sehr schwierig werden", sagt Peter Kellner, Chef des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov. Die Chancen dafür, dass es keine absolute Mehrheit für eine der beiden großen Parteien geben wird, schätzt er auf mindestens 80 zu 20. Damit würde das wirkliche Drama erst am 8. Mai beginnen, wenn das Ergebnis endgültig bekannt ist. "Der Ausgang war noch nie so ungewiss", sagt Kellner und prophezeit ein "sehr großes Durcheinander". Zurzeit führen die Konservativen mit knappem Vorsprung, aber werden sie erneut ein Bündnis mit den Liberaldemokraten eingehen? Kellner wirft die Möglichkeit in den Raum, dass die Labour-Partei mit den Liberaldemokraten und der SNP einen Deal verhandeln könnte. "Aber zehn Sitze in die eine oder zehn Sitze in die andere Richtung und alles ist wieder anders." Die Persönlichkeit der Parteichefs sei von großer Bedeutung, wobei Experten hier die Achillesferse von Labour ausmachen. Ed Miliband wirkt auf viele Briten nicht volksnah und staatsmännisch genug, zu hölzern, zu ungeschickt.

Bislang ist alles möglich: Cameron bleibt Premierminister , Cameron muss gehen, Miliband wird Premierminister , Miliband muss gehen. "Wir wissen, dass etwas passieren wird. Wir wissen nur nicht, was", fasst es Kellner zusammen. Ihm zufolge könnte es gar soweit kommen, dass die Konservativen knapp gewinnen und Cameron dennoch Downing Street räumen muss, weil der innerparteiliche Druck zu groß ist. Immerhin wartet der rechte Flügel der Europaskeptiker der Tories nur auf einen Schnitzer Camerons, der den Briten ein EU-Referendum versprochen hat. Gleichwohl wissen die Chefs der kleineren Parteien um ihre Bedeutung. Sie wollen nicht nur als Königsmacher missbraucht werden, sondern haben klare Wünsche. Ukip-Chef Nigel Farage fordert beispielsweise den Austritt aus der EU, die SNP liebäugelt noch immer mit einer Ablösung Schottlands.

Und was ist mit den Inhalten des Wahlkampfes? Gesundheitssystem, Steuerpolitik, Immigration, EU, Wirtschaft - die Themen liegen bereit, aber in ihrer Gänze werden sie nicht aufgenommen. Da wird eben lieber um die Fernsehdebatten gestritten. Die Sender schlagen inzwischen vor, dass es zwei Debatten mit je sieben Parteivorsitzenden gibt - der praktische Nutzen für den Wähler erscheint übersichtlich. Zum Schluss soll es dann zwischen Cameron und Miliband zum Showdown kommen.

Meinung:

Die Briten zocken

Von SZ-KorrespondentinKatrin Pribyl

Die Wahl in Großbritannien verspricht nicht nur die spannendste dieses Jahr zu werden, sondern auch die folgenschwerste. Für die Finanzmärkte, für Europa, für die Briten selbst. Stabile Mehrheiten scheinen ausgeschlossen, zu stark haben die EU-feindliche Unabhängigkeitspartei Ukip sowie die Schottische Nationalpartei SNP, selbst die Splitterparteien, aufgeholt. Der konservative Premier David Cameron macht Wahlkampf mit einem Referendum über die EU-Mitgliedschaft und will damit die Europaskeptiker in den eigenen Reihen besänftigen. Die Labour-Partei gibt sich mehr oder minder EU-freundlich, doch die Argumente für die Mitgliedschaft versiegen im lauten Wahlkampfgeschrei. Dabei sollten sie deutlich und schnell vorgetragen werden. Dass ein EU-Austritt der Union, in erster Linie jedoch dem Königreich selbst schwer schaden würde, ist offenkundig. Doch eine in der EU-Frage über Jahre schwankende Regierung wird Großbritannien ebenfalls Schaden zufügen, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in der Außenwirkung. Heute hat das Königreich noch Einfluss in Brüssel, diesen leichtsinnig zu verzocken ist riskant. Die Briten müssen aufpassen, dass sie nicht Opfer ihrer eigenen Wahlkampf-Rhetorik werden.

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