Westerwelle und der Sozialismus

Die Distanzierung von ihrem Stellvertreter hätte kaum deutlicher ausfallen können. "Es ist sicher individuell unterschiedlich, die Sprachführung, die da jeder wählt", ließ Angela Merkel am Freitagmittag dem Vizekanzler persönliche Missbilligung ausrichten

Westerwelle sieht in der Hartz-IV-Debatte eine "sozialistische Diskussion". Foto: dpa, Grafik: Robby Lorenz

Westerwelle sieht in der Hartz-IV-Debatte eine "sozialistische Diskussion". Foto: dpa, Grafik: Robby Lorenz

Die Distanzierung von ihrem Stellvertreter hätte kaum deutlicher ausfallen können. "Es ist sicher individuell unterschiedlich, die Sprachführung, die da jeder wählt", ließ Angela Merkel am Freitagmittag dem Vizekanzler persönliche Missbilligung ausrichten. "Das ist sicherlich weniger der Duktus der Kanzlerin", fügte die Regierungssprecherin mit Blick auf Guido Westerwelles Formulierungskunst unzweideutig hinzu.

Doch der zeigte sich davon völlig unbeeindruckt. Nur wenige Minuten nach der Merkel-Schelte baute sich der FDP-Chef im Auswärtigen Amt auf, um erneut forsch auf die nach seiner Ansicht grassierende Hartz-IV-Mentalität im Lande einzudreschen. Man dürfe nicht nur auf die schauen, die auch in Zukunft Solidarität nötig hätten. "Wir müssen auch auf die achten, die das alles erarbeiten", legte Westerwelle vor Kameras noch einmal nach. "Das muss man in Deutschland noch sagen können. Alles andere ist Sozialismus", zog er vom Leder. Für eine Entschuldigung sah Westerwelle keinen Grund. "Ich spreche die Sprache, die verstanden wird", verkündete er. Keine einzige Silbe vom Gesagten brauche er zurückzunehmen.

Erst mit leichter Verzögerung erkannte die Opposition die Vorlage, die ihr der FDP-Chef mit seinen Attacken auf den Sozialstaat geliefert hatte. Umso heftiger fiel die Empörung aus. "Jetzt lässt Guido Westerwelle die Maske fallen", brachte Verdi-Chef Frank Bsirske die Vorbehalte der Gewerkschaften auf den Punkt. Von einer Beleidigung für Millionen von Langzeitarbeitslosen sprach Grünen-Chefin Renate Künast. Und der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel stellte Westerwelle in eine Reihe mit Kaiser Nero. Ähnlich wie der antike Potentat damals an Rom, zündle der Vizekanzler jetzt am Sozialstaat.

Diesen geschichtlichen Rückgriff hat sich Westerwelle allerdings selbst zuzuschreiben. "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein", hatte der FDP-Hobby-Historiker indirekt vor dem drohenden Untergang Deutschlands durch Hartz-IV-Empfänger und andere Schwache in der Gesellschaft gewarnt. Nicht nur die Opposition hielt dies für eine ziemlich gewagte These. Genüsslich verwiesen Westerwelles politische Gegner darauf, er stehe schließlich einer Partei vor, die in der Vergangenheit vor allem die eher Betuchten im Lande umworben habe. Und dabei gebe es durchaus auch Parallelen zur Endzeit im alten Rom, wo vor allem die Eliten mit Schwelgerei und Prunkliebe den Niedergang des Reichs beschleunigt hätten.

Auch bei der Union wurde gerätselt, was den FDP-Vorsitzenden zu dem nicht ersten Rundumschlag in dieser Woche geritten hat. Bereits bei einem Koalitionstreffen am letzten Dienstag hatten Unionsgrößen kopfschüttelnd einen erregten Auftritt Westerwelles erlebt. Von "pubertärem" Verhalten war hinterher die Rede.

Als wahrscheinlichste Erklärung für Westerwelles verbale Aufrüstung gilt in der Union der tiefe FDP-Absturz in den Umfragen, in denen auch der Außenminister anders als alle seine Vorgänger in diesem Amt lediglich auf ganz bescheidene Zustimmung kommt. Knapp 100 Tage vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen mache sich bei der FDP zunehmend Panik breit, glauben nicht wenige in der CDU.

Auch innerparteilich regt sich bei den Freien Demokraten Kritik am Führungsstil des Vormanns. Die FDP habe keine ausreichenden Pläne für die Regierungsarbeit im Bund gehabt, weil Westerwelle vor der Bundestagswahl dafür "ein Denkverbot" verhängt habe, bemängelt etwa der hessische Landes-Chef Uwe Hahn: "Das war ein Fehler". Und Schleswig-Holsteins FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki sieht die Lage noch bedrohlicher. "Wir erleben derzeit eine gewisse Auflösung der Ordnung der FDP", lautet sein vernichtendes Urteil.

 Westerwelle sieht in der Hartz-IV-Debatte eine "sozialistische Diskussion". Foto: dpa, Grafik: Robby Lorenz

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