Wenn ein Tod sieben neue Leben schenkt

Den Moment, der ihr Leben für immer veränderte, hat sie noch vor Augen: Die Straße ist glatt, sie verliert die Kontrolle über ihr Auto, schleudert in den Graben. Simone Simon fährt zur Arbeit am 18. Dezember 1998, zehn Kilometer von ihrem Zuhause in Steinwenden bei Kaiserslautern entfernt. Ihre Mutter wartet in ihrem Friseursalon auf die Tochter - doch die kommt nie an

 Eine lebensfrohe Frau ist Simone Simon heute. Der Zukunft sieht sie zuversichtlich entgegen. Während der quälenden Zeit des Wartens auf die Spenderniere war sie oft verzweifelt. Foto: Thomas Wieck

Eine lebensfrohe Frau ist Simone Simon heute. Der Zukunft sieht sie zuversichtlich entgegen. Während der quälenden Zeit des Wartens auf die Spenderniere war sie oft verzweifelt. Foto: Thomas Wieck

Den Moment, der ihr Leben für immer veränderte, hat sie noch vor Augen: Die Straße ist glatt, sie verliert die Kontrolle über ihr Auto, schleudert in den Graben. Simone Simon fährt zur Arbeit am 18. Dezember 1998, zehn Kilometer von ihrem Zuhause in Steinwenden bei Kaiserslautern entfernt. Ihre Mutter wartet in ihrem Friseursalon auf die Tochter - doch die kommt nie an. Fünf Wochen liegt die junge Frau im künstlichen Koma, um sich von den Verletzungen zu erholen. Als sie aufwacht, geht der Albtraum weiter. "Meine Mutter sagte mir, dass ich eine neue Niere brauche", erinnert sich Simon. "Ich war noch benebelt und konnte das nicht einordnen. Erst allmählich sickerte es durch."Carolin Donauer aus Kindsbach bei Landstuhl kann nicht sagen, wann genau ihr Onkel gestorben ist. "Beim Hirntod weiß man das nicht", sagt sie. Offiziell gilt der 17. März 2006 als Todestag. 46 Jahre alt ist ihr Onkel Karl, als in seinem Kopf ein Aneurysma platzt. "Er hatte zunächst nur Kopfschmerzen, ihm war übel, aber so etwas hat ja jeder mal. Da dachte er sich wohl nichts dabei", erzählt Carolin Donauer. Als er schließlich ins Krankenhaus eingeliefert wird, ist es schon zu spät. Eine Not-Operation kann ihn nicht retten, doch seine Organe könnten andere Menschen retten. Er selbst hat zu Lebzeiten nicht über eine mögliche Organspende entschieden, also muss seine Familie dies tun.

Simone Simon ist 20 Jahre alt, als ihre Nieren durch den Autounfall so schwer beschädigt werden, dass eine Transplantation unausweichlich ist. Sie hat Blutgruppe 0, das macht es schwer, ein passendes Organ zu finden. Ihre Eltern kommen nicht als Spender infrage. Das Transplantationszentrum der Uniklinik in Homburg setzt Simone Simon auf die Warteliste. Sie weiß, dass sie vermutlich länger auf ein Organ warten muss als andere. Doch was ihr tatsächlich bevorsteht, kann sie nicht ahnen. "Rückblickend weiß ich manchmal nicht, wie ich das ausgehalten habe", sagt sie. Zehn Jahre, in denen sich Hoffnung erst in Verzweiflung, dann in Resignation wandelt, zehn Jahre der Entbehrungen im Leben eines jungen Menschen, dem alle Möglichkeiten offen stehen sollten.

Behutsame Aufklärung

Die Familie Donauer erlebt eine Situation, die sich niemand vorstellen kann oder will: Sie muss den ersten Ansturm der Trauer um einen geliebten Menschen verkraften - und soll gleichzeitig entscheiden, ob dessen Organe für eine Spende freigegeben werden sollen. Die Ärzte und Mitarbeiter der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) hätten die Familie sehr behutsam über das Thema aufgeklärt, erzählt Carolin Donauer. "Für uns war es eigentlich keine schwere Entscheidung. Mein Onkel war ein mitfühlender Mensch. Er wollte helfen. Wir sind sicher, dass wir das Richtige getan haben."

Viele Menschen seien der Ansicht, so kurz nach dem Tod sei der falsche Zeitpunkt für eine so bedeutsame Entscheidung. "Aber die Ärzte können nicht warten", sagt die 20-jährige Studentin. "Deshalb sollte jeder sich Gedanken über Organspende machen und es seiner Familie mitteilen, um ihr im Fall der Fälle diese Entscheidung zu ersparen."

Nach zwölf Wochen im Krankenhaus und 15 Wochen Kur versucht Simone Simon ihrem Leben ein gewisses Maß an Normalität zurückzugeben, "in ganz kleinen Schritten". Drei Mal die Woche geht sie zur Dialyse, bei der eine Maschine ihr Blut reinigt. Sie muss auf ihre Ernährung achten und darf höchstens einen Liter Flüssigkeit am Tag zu sich nehmen. "Körperlich ging es mir in den ersten Jahren noch ganz gut", erzählt sie. Doch die psychische Belastung des Wartens ist enorm. "Man kann es nicht ausblenden, weil man ja immer auf den Anruf vorbereitet sein muss, dass es ein passendes Organ gibt." Das Handy ist Simone Simons ständiger Begleiter, wenn der Empfang schlecht ist, wird sie unruhig. "Anfangs dachte ich jedes Mal, wenn das Telefon klingelte: Das ist es jetzt!" Der Anruf kommt nicht.

Sieben Menschen kann mit den Organen von Carolin Donauers Onkel geholfen werden: Lunge, Niere, Leber, Bauchspeicheldrüse, Herz und Netzhäute werden transplantiert. Die Familie erfährt das aus einem Brief der DSO. "Das kam überraschend für uns. Nach der Organentnahme dachten wir, das war's jetzt. Schließlich läuft Organspende in Deutschland sehr anonym ab", sagt die Studentin. Anders als in anderen Ländern wie etwa den USA erfahren die Familien der Spender nicht, wer die Organe bekommen hat. Alter und Geschlecht der Empfänger stehen jedoch in dem Brief. "Die Lunge bekam ein 40-jähriger Mann. Wir hatten eigentlich nicht gedacht, dass dieses verkohlte Ding jemandem helfen könnte. Mein Onkel war starker Raucher", erzählt Carolin Donauer lächelnd.

Allmählich baut Simone Simons Körper ab, die Jahre der Dialyse hinterlassen Spuren. "Die Nieren arbeiten 24 Stunden am Tag, die Maschine nur ein paar Stunden drei Mal in der Woche." Die junge Frau ist oft müde, verspürt Übelkeit, verliert Gewicht - und die Freude am Leben. Sie verkriecht sich. "Ich habe mich so hilflos gefühlt, ich dachte, die haben mich vergessen", sagt die 34-Jährige. Anfangs habe sie oft darüber nachgedacht, dass jemand sterben musste, um sie zu retten. "Zum Schluss wollte ich nur noch leben."

Als der erlösende Anruf kommt - am 10. Mai 2008 -, sitzt Simone Simon bei einer Freundin im Garten beim Grillen. "Wir hatten ein Fläschchen Wein geöffnet, ich wollte mir mal etwas gönnen", erinnert sie sich. "Dann klingelte das Handy." Ungewöhnlich, denn eigentlich hat sie dort nie Empfang. "Ich habe die Homburger Nummer erkannt. Trotzdem dachte ich, jemand wollte mich verarschen. Ich habe das Handy auf den Boden geworfen." Die Freundin beruhigt sie, hebt das Handy auf - zum Glück ist der Arzt am anderen Ende der Leitung noch dran. Das Transplantationszentrum hat endlich eine Niere für Simone Simon. "Ich war völlig zerrissen. Es war eine Mischung aus Ungläubigkeit, Freude und Angst", beschreibt sie ihre Gefühle. "Doch dann bin ich auf einmal ganz ruhig geworden." Nach dem Anruf geht alles ganz schnell: kurz nach Hause, duschen, packen und ab ins Krankenhaus nach Homburg. Dort müssen Tests zeigen, ob Simone Simons Körper die Niere annehmen wird. "Auf dem Flur habe ich einen Mann mit einem Koffer getroffen. Er war in der Warteliste vor mir, aber zu ihm passte die Niere nicht", erzählt die 34-Jährige. Zwei Stunden später bekommt sie selbst grünes Licht. Noch in der Nacht erhält sie die Niere, auf die sie fast zehn Jahre gewartet hat.

Ein dreiviertel Jahr nach dem Tod des Onkels, in der Adventszeit, erhält die Familie Donauer Post. Organempfänger und Angehörige der Spender können sich in Deutschland nicht kennenlernen. Aber die Empfänger können einen anonymen Brief schreiben. Es war ausgerechnet der Empfänger der Lunge, der sich für das lebensrettende Geschenk bedankte. "Er schrieb, dass er seit dem dritten Lebensjahr lungenkrank war. Sein größter Wunsch sei es gewesen, einmal tief durchatmen zu können", erzählt Carolin Donauer. Der Mann habe sich auch Vorwürfe gemacht, weil für sein Überleben ein anderer Mensch gestorben war. "Es war uns wichtig, zurückzuschreiben und ihm die Schuldgefühle zu nehmen. Er kann ja nichts dafür. Ob er nun die Lunge bekommen hätte oder nicht, mein Onkel wäre trotzdem gestorben."

Psychisches Loch

Auch Simone Simon schreibt einen solchen Brief. "Ich wusste, dass die Niere von einer 41-jährigen Frau stammte. Ich habe mich oft gefragt, warum sie gestorben ist, und ob sie vielleicht Kinder hatte", erzählt die 34-Jährige. "Es war mir ein Bedürfnis, mich zu bedanken, der Familie zu erzählen, was passiert ist und dass es mir gut geht." Wirklich gut geht es Simone Simon allerdings erst seit kurzem wieder. Körperlich fühlt sie sich nach der Transplantation schnell besser, "als könnte ich Bäume ausreißen". Psychisch fällt sie jedoch in ein Loch. "Nach all den Jahren des Wartens konnte ich nicht begreifen, dass es wirklich vorbei ist", erzählt sie. Die Angst, dass ihr Körper die Niere doch noch abstoßen könnte, will nicht weichen - auch nicht, nachdem die kritischen ersten sechs Monate verstrichen sind. "Einmal pro Woche musste ich zu einer ambulanten Untersuchung. Ich bin aber drei bis vier Mal nach Homburg gefahren, nur um sicher zu sein." Schließlich sucht Simone Simon Hilfe bei einem Psychologen. Im August 2010 heiratet sie ihren langjährigen Partner, den sie in der schwierigen Zeit des Hoffens und Bangens kennengelernt hat, und der ihr ebenso Kraft gab wie ihre Familie. Jetzt liegt die Zukunft mit all ihren Möglichkeiten vor ihr. "Ich gehe jetzt bewusster und positiver durchs Leben und achte mehr auf mich", sagt Simone Simon. Ihr Ziel: "Gesund bleiben."

"Ich will ein Zeichen setzen"

Simone Simon und Carolin Donauer - zwei Frauen, deren Erfahrungen mit der Organspende sie geprägt haben. Beide engagieren sich. Kürzlich erzählten sie bei einem Infotag an der Homburger Uniklinik von ihren Erlebnissen. Gelassen bleibt die 20-jährige Carolin Donauer bei diesem emotionalen Thema. "Die Trauer um den Verlust meines Onkels und die Organspende, das sind für mich zwei verschiedene Dinge. Warum sollte ich traurig sein, wenn mit den Organen andere Menschen weiterleben konnten?", fragt sie. Simone Simon ist immer noch aufgewühlt, wenn sie über die schweren zehn Jahre ihres Lebens spricht. "Aber ich will ein Zeichen setzten. Damit die Menschen wissen, dass Organspende neues Leben schenken kann. So wie mir."Foto: Stefanie Marsch

"Mein Onkel war ein mitfühlender Mensch.

Er wollte helfen."

 Eine lebensfrohe Frau ist Simone Simon heute. Der Zukunft sieht sie zuversichtlich entgegen. Während der quälenden Zeit des Wartens auf die Spenderniere war sie oft verzweifelt. Foto: Thomas Wieck

Eine lebensfrohe Frau ist Simone Simon heute. Der Zukunft sieht sie zuversichtlich entgegen. Während der quälenden Zeit des Wartens auf die Spenderniere war sie oft verzweifelt. Foto: Thomas Wieck

Carolin Donauer, Nichte eines Spenders

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