Schöne neue Arbeitswelt "Einstellung zum Mitarbeiter ändern"Kita und Schreibtisch - IBM geht bei Familienfreundlichkeit voran

Saarbrücken/Berlin. Exakt 904 Artikel unserer Zeitung haben sich seit 1993 mit dem Thema "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" beschäftigt. Nach jahrelanger Diskussion könnte jetzt der Moment gekommen sein, an dem auf die vielen warmen Worte (ein paar) Taten folgen

Saarbrücken/Berlin. Exakt 904 Artikel unserer Zeitung haben sich seit 1993 mit dem Thema "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" beschäftigt. Nach jahrelanger Diskussion könnte jetzt der Moment gekommen sein, an dem auf die vielen warmen Worte (ein paar) Taten folgen. Und man frei nach Galileo Galilei sagen möchte: "Und sie bewegt sich doch - die Politik!"

Verantwortlich dafür sind zwei Frauen in Führungspositionen: Kanzlerin Angela Merkel und Familienministerin Kristina Schröder. Die CDU-Politikerinnen trafen sich gestern mit hochrangigen Vertretern der Wirtschaft, um über Familie und Beruf und das damit verbundene Bündel an Problemen zu reden. Doch anders als so oft wurde es diesmal ansatzweise konkret - und eine "Charta für familienbewusste Arbeitszeiten" unterzeichnet. Mit dieser freiwilligen Selbstverpflichtung wollen Politik und Wirtschaft dafür sorgen, "dass sich in Deutschland ein intelligentes und modernes Verständnis flexibler Arbeitszeiten entwickelt". Statt der Alternative "Halbtagsjob oder starre Vollzeitstelle" sollen mehr "innovative Arbeitszeitmodelle" geschaffen werden.

Was darunter zu verstehen ist, versuchte Schröder zu erklären. Wichtig sei vor allem eine Änderung der Unternehmenskultur. Die Ministerin fordert den "Abschied von der Präsenzkultur". In vielen Firmen herrsche noch immer der Glaube vor, der Beste sei der, der am längsten am Schreibtisch sitze. "Vielleicht ist er aber auch der Ineffizienteste", gab Schröder zu bedenken. Wer weniger Zeit zur Verfügung habe, arbeite wesentlich zielgerichteter.

Schröder wurde noch deutlicher: Wer seinen Führungskräften kein geeignetes Modell zu Vereinbarkeit von Familie und Beruf anbiete, werde sie ganz verlieren. Das zeige eine Studie unter Fachkräften: Auf die Frage, was wichtiger sei bei der Wahl eines Arbeitgebers - familienfreundliche Angebote oder das Gehalt - hätten 70 Prozent die Familienfreundlichkeit als ebenso wichtig oder sogar als wichtiger bezeichnet. Die Bundeskanzlerin nannte die Charta gestern einen wichtigen Schritt. "Familienerfahrung darf auf dem Arbeitsmarkt nicht länger als Störfaktor gelten", sagte sie.

Für Renate Dittgen, die seit 36 Jahren an der Spitze der gleichnamigen Schmelzer Baufirma steht, ist die neue Initiative "gut und schön, aber in kleineren Betrieben schwer umzusetzen". Langfristig würden daher große Firmen beim Kampf um kluge Köpfe profitieren. Für Dittgen sind die Probleme vielschichtiger. So sei das gesellschaftliche Klima in Deutschland weiterhin frauenfeindlich. "Wer nach der Geburt eines Kindes schnell in den Beruf zurückkehrt, wird doch schief angeschaut", sagt sie. Auch könne sie im ländlich geprägten Saarland nicht feststellen, dass besonders viele Frauen überhaupt Karriere machen wollten.

Und selbst für die bislang zaghaften Bemühungen der Politik, Frauen mehr Chancen zu ermöglichen, hat Dittgen eine Erklärung. Die Männerwelt sei einfach gut darin, Macht zu verteidigen: "Männer bleiben lieber unter sich." Auf Frauen werde erst zurückgegriffen, wenn es auf dem Arbeitsmarkt "eng wird". So wie jetzt, das hatte Merkel betont: Vor dem Hintergrund des steigenden Fachkräftebedarfs seien flexible Lösungen ein wichtiger Wettbewerbsfaktor für den Standort Deutschland. Was die Charta wert ist, soll sich spätestens im Frühjahr 2013 zeigen. Dann wird Bilanz gezogen über die schöne neue Arbeitswelt. Sie als Ministerin und Führungskraft sind selbst ein Beispiel für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sie haben drei Kinder. Ihr Mann ist auch berufstätig. Wer macht was bei Ihnen zu Hause?

Kramp-Karrenbauer: Wir haben das klassische Rollenmodell getauscht. Mein Mann kümmert sich hauptsächlich um das Funktionieren des Familienlebens. Er arbeitet im Dauer-Schichtdienst nachts. So kann sich immer einer von uns um die Kinder kümmern. Wir haben zudem auch das Glück, beide aus Großfamilien zu kommen. Deshalb können wir bei Bedarf auch auf ein größeres Netzwerk zurückgreifen.

Viele können das heute leider nicht mehr. Was muss am dringendsten geschehen, um die Situation zu verbessern?

Kramp-Karenbauer: Die Unternehmer sind gefordert. Sie müssen ihre Einstellung zum Mitarbeiter verändern. Ihn als Mensch mit sozialen Bindungen und Verpflichtungen sehen. Sowohl in der Kindererziehung als auch als jemand, der Angehörige pflegt. Es darf beispielsweise nicht mehr sein, dass Mütter schief angesehen werden, wenn sie mal ausfallen, weil ihre Kinder krank sind.

Wie stark sind Saar-Unternehmen an Lösungen interessiert?

Kramp-Karrenbauer: Nach meinem Eindruck ist das Interesse inzwischen sehr hoch. Beschleunigt wird es durch Fachkräftemangel und die zurückgehenden Ausbildungszahlen.

Was sollten die Unternehmen vorrangig tun?

Kramp-Karrenbauer: Mit Sicherheit nicht mehr Leistung so definieren, dass ein fähiger Mitarbeiter möglichst viel Zeit am Schreibtisch verbringt. Oder acht Stunden vor Ort ist. Wir brauchen flexiblere Arbeitszeitmodelle. In Skandinavien ist es normal, dass Eltern um 17 Uhr den Betrieb verlassen, um ihre Kinder von der Schule oder der Betreuungs-Einrichtung abzuholen. Die deutsche Wirtschaft und die öffentliche Hand sollten gemeinsam die Arbeitszeiten in Betrieben und die in Einrichtungen der Kinderbetreuung besser aufeinander abstimmen. Zudem sollten Unternehmen ihre Betriebsabläufe mehr an den Öffnungszeiten von Schulen ausrichten. Und selbst Kinder-Betreuungsplätze anbieten oder in Einrichtungen anmieten. Außerdem sollten sie sich um Kinderbetreuung während den Ferien kümmern.

Was muss noch passieren?

Kramp-Karrenbauer: Die Unternehmen sollten einen intensiveren Kontakt zu Mitarbeiterinnen pflegen, die in Elternzeit gehen oder einen Angehörigen pflegen. Es geht darum, die Ausstiegszeit möglichst kurz zu halten und diese aktiv zu begleiten. Mit häufiger Fortbildung als Angebot inklusive. Wozu unter Umständen auch die Finanzierung einer Umschulung gehört, falls es am alten Arbeitsplatz nach längerer Abwesenheit keine sinnvolle Perspektive gibt.Ehningen. Auf Familien abgestimmte Arbeitszeitmodelle sind längst kein Ausdruck selbstlosen Wohlwollens gegenüber Arbeitnehmern mehr, sondern das Ergebnis strategischer Überlegungen in den Unternehmen. Denn in Zeiten von Fachkräfte- und Spezialistenmangel treten die Firmen um die besten Köpfen in den Wettbewerb. "Um ein attraktiver Arbeitgeber zu sein oder zu werden, muss man heutzutage Arbeitszeitmodelle anbieten, die bei Familien gut ankommen", sagt Dieter Scholz (Foto: IBM), Personalchef bei der deutschen Tochter des US-Technologiekonzerns IBM, die 21 000 Mitarbeiter hat.

Die IBM Deutschland mit Sitz in Ehningen bei Stuttgart arbeitet seit Jahren am Thema Familienfreundlichkeit. "Wir bieten die Kombination von flexiblen Arbeitszeiten und mobilen Arbeitsplätzen", berichtet Scholz. So können die Mitarbeiter ihre Arbeitszeit bis zu 15 Stunden pro Woche reduzieren, von zu Hause arbeiten oder ihr Arbeitsverhältnis bis zu sechs Jahre ruhen lassen, sei es für die Kinderbetreuung oder für die Pflege Angehöriger. "Wichtig ist, dass die Kollegen während dieser langen Zeit sich weiterbilden und Kontakt zu ihrer Abteilung und ihrem Chef halten", betont IBM-Manager Scholz. Die Firma hält Material und Online-Weiterbildungskurse bereit.

An einigen der 40 Standorte reserviert IBM Plätze in örtlichen Kindergärten und handelt Sonderkonditionen aus. Am Stammsitz etwa wird das Mittagessen gesponsert, dafür kommt die Einrichtung den Mitarbeitern mit längeren Öffnungszeiten entgegen.

Warum tut sich die deutsche Wirtschaft mit der Familienfreundlichkeit noch immer so schwer? Scholz vermutet: "In vielen Firmen wird es nicht gern gesehen, wenn ein Mitarbeiter nicht körperlich im Büro anwesend ist - sie fürchten, die Kontrolle zu verlieren." Aber vor allem die junge Generation lasse sich nicht mehr in das Korsett starrer Arbeitszeiten stecken. Scholz weiß: "Die sind permanent vernetzt und arbeitsfähig - neun Uhr Arbeitsbeginn, zwölf Uhr Kantine und 18 Uhr nach Hause gehen, kommt für die nicht mehr in Frage." dpa

"Familienerfahrung darf auf dem Arbeitsmarkt nicht länger als Störfaktor gelten."

Bundeskanzlerin Angela Merkel

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