Rolle rückwärts beim Abitur - G9 kommt wieder

Es sind nicht nur die vielen Meinungsumfragen, in denen Eltern dem ungeliebten Turbo-Abitur oder dem gymnasialen "G8-Modell" schlechte Noten ausstellen. Es ist bereits eine Abstimmung mit den Füßen - zumindest in den West-Bundesländern, in denen Eltern für ihre Kinder mittlerweile wieder zwischen dem Abitur nach zwölf oder 13 Schuljahren wählen können

 Abiturprüfung nach acht Jahren am Gymnasium - viele Schüler fühlen sich dadurch übermäßigem Stress und Druck ausgesetzt. Sie müssen den Lernstoff in kürzerer Zeit pauken. Foto: Rumpenhorst/dpa

Abiturprüfung nach acht Jahren am Gymnasium - viele Schüler fühlen sich dadurch übermäßigem Stress und Druck ausgesetzt. Sie müssen den Lernstoff in kürzerer Zeit pauken. Foto: Rumpenhorst/dpa

Es sind nicht nur die vielen Meinungsumfragen, in denen Eltern dem ungeliebten Turbo-Abitur oder dem gymnasialen "G8-Modell" schlechte Noten ausstellen. Es ist bereits eine Abstimmung mit den Füßen - zumindest in den West-Bundesländern, in denen Eltern für ihre Kinder mittlerweile wieder zwischen dem Abitur nach zwölf oder 13 Schuljahren wählen können. Der Trend im Westen, so sagen Schulforscher übereinstimmend, geht wieder zurück in Richtung klassisches Abitur nach längerer Schulzeit.

In Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen laufen die an einigen Gymnasien zunächst testweise wieder eingeführten G9-Modellzüge über. Auf Anhieb hätte man gleich die doppelte Zahl genehmigen können. Noch vor Weihnachten beschloss der hessische Landtag Wahlfreiheit für Schulen und Eltern ab dem nächsten Schuljahr. In Schleswig-Holstein ist das Abitur an einzelnen Gymnasien schon längst wieder auch nach 13 Jahren möglich. Bayern plant ein "Flexibilisierungsjahr" - um angesichts der Elternrufe nach Rückkehr zur alten Schulzeit "ein wenig Dampf aus dem Kessel zu nehmen". Und an den Berliner Gymnasien mit Turbo-Abi gab es 2012 erstmals mehr freie Plätze als an den integrierten Schulformen - wo die Reifeprüfung unverändert erst nach 13 Schuljahren abgelegt wird.

Ende 2001 hatte die erste Pisa-Studie die Öffentlichkeit mit der Botschaft alarmiert, dass 15-Jährige in Deutschland mit ihren Schulleistungen im weltweiten Vergleich allenfalls Mittelmaß sind. Der Schock war noch nicht verhallt, da verabredeten die Ministerpräsidenten in abendlicher Runde, die Schulzeit bis zum Abitur bundesweit auf zwölf Jahre zu verkürzen - wie es in der DDR vor der deutschen Einheit auch schon üblich war. Die überraschten West-Kultusminister mussten sich eilig daran setzen, die Weisung ihrer Regierungschefs umzusetzen. "Welch ein absurder Beschluss, auf festgestellte Leistungsschwächen in der Mittelstufe mit einer Schulzeitverkürzung bis zum Abitur zu reagieren", kritisierte damals der Bildungsforscher Klaus Klemm.

Doch statt die Unterrichtsinhalte zu überprüfen und das Volumen zu reduzieren, wurde vielerorts die von der Kultusministerkonferenz vorgegebene Pflichtzahl von 265 Lehrplanstunden bis zum Abitur einfach von neun auf acht Jahre übertragen. Besonders in der kritischen Mittelstufe, wenn Jugendliche mit der Pubertät zu kämpfen haben, kommt es nunmehr zu einer zusätzlichen Stofffülle, zu Nachmittagsunterricht sowie zu Sieben- bis Acht-Stunden-Tagen. Die Folgen: Stress und Unmut bei den Eltern, zusätzliche Kosten für Nachhilfe. Außerschulische Aktivitäten bleiben auf der Strecke.

Die Schulzeitverkürzung führt dazu, dass heute bisweilen gerade erst 17-jährige Abiturienten an die Uni-Türen klopfen. Zur Einschreibung brauchen sie noch die Unterschrift der Eltern, ebenso für den Mietvertrag im Studentenwohnheim. In Baden-Württemberg und auch anderswo bieten einzelne Universitäten für die jungen Studienanfänger zusätzliche Kurse, Vorsemester oder einjährige Einführungsveranstaltungen an, um das fehlende Schuljahr wieder zu kompensieren.

Die Rufe der Wirtschaft nach immer jüngeren Abiturienten und Schulabgängern verfangen bei den meisten Eltern nicht. In Bayern zum Beispiel lassen immer mehr Familien nach Beobachtungen der GEW ihre Kinder bereits bei der Grundschuleinschulung mit Hilfe ärztlicher Atteste noch ein Jahr zurückstellen, "um ihnen noch ein wenig Schonraum zu bieten". Bayerns Ex-Kultusminister Hans Zehetmair (CSU) war nie ein Freund des Turbo-Abiturs. Spricht man ihn auf die Entwicklung heute an, dann lacht er. "Reife" - so urteilt er weise - "hat nicht nur beim Wein auch etwas mit dem Alter zu tun."

Meinung

Ein fauler Kompromiss

Von SZ-Redakteur

Pascal Becher

Erst G9, dann G8 und heute beides. War das Turbo-Abi also doch keine gute Idee? Aber trotzdem nicht völlig daneben? Es klingt seltsam. Oder eben nach einem faulen Kompromiss - ausgekungelt in den Hinterzimmern einiger westdeutscher Landtage. Wähler sind nun mal auch Eltern. Und wählende Eltern will scheinbar kein Volksvertreter verprellen. Dabei gilt das wichtigste Argument für G8 doch immer noch: Durch eine verkürzte Ausbildungszeit sollten deutsche Schüler international wieder mithalten können. Und das hat die Reform auch eingelöst. Jetzt kann es nur noch darum gehen, endlich wieder Ruhe ins System zu kriegen. Und die Energie auf eine möglichst hohe Qualität der Bildung zu verwenden. Denn die ist am Ende entscheidend.

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