"Politiker kritisieren, ohne zu zittern"

Paris. Zwei Zimmer sind für diejenigen reserviert, die nächtelang in minus 20 Grad kalten Zellen eingesperrt wurden. Für diejenigen, die in Haft missbraucht wurden. Oder für diejenigen, die in Stacheldraht gewickelt wurden. Die beiden Zimmer haben ein eigenes Bad; es gibt Medikamente sowie einen Psychologen, der auf Abruf steht

 Philippe Spineau, Gründer und Direktor der Einrichtung Maison des Journalistes, hat immer ein offenes Ohr.Foto: MDJ

Philippe Spineau, Gründer und Direktor der Einrichtung Maison des Journalistes, hat immer ein offenes Ohr.Foto: MDJ

Paris. Zwei Zimmer sind für diejenigen reserviert, die nächtelang in minus 20 Grad kalten Zellen eingesperrt wurden. Für diejenigen, die in Haft missbraucht wurden. Oder für diejenigen, die in Stacheldraht gewickelt wurden. Die beiden Zimmer haben ein eigenes Bad; es gibt Medikamente sowie einen Psychologen, der auf Abruf steht. Diejenigen, die "nur" bedroht oder denen Zähne ausgeschlagen worden sind, wohnen in den anderen dreizehn Zimmern.

Rot und blau sind die Türen, an jeder hängt ein kleines Schild, auf dem der Name eines französischen Mediums steht. "Paris Match" steht da etwa - eine Klatschillustrierte. Oder "Le Canard enchaîné" - ein bissiges und investigatives Satireblatt. Die Namen stehen an den Türen der Zimmer, weil diese Medien sie finanzieren. Sie tun es aus Solidarität mit ihren Kollegen: In den Zimmern wohnen verfolgte Journalisten aus dem Kongo, aus China oder Weißrussland. Sie wurden bedroht, verhaftet, gefoltert. Ihre Zähne sind ihnen ausgeschlagen worden, um die Journalisten mundtot zu machen. Nun haben sie in der Maison des Journalistes einen sicheren Unterschlupf gefunden.

Meinungsfreiheit ist auch heute noch, am Tag der Pressefreiheit, im 21. Jahrhundert, ein zerbrechliches Gut. Viele Journalisten riskieren Leib und Leben, und nicht wenige verlieren es. Ein Blick auf die Internet-Seite der Organisation Reporter ohne Grenzen, die sich weltweit für Pressefreiheit einsetzt, belegt dies. Das "Barometer 2010" zeigt an: neun Journalisten getötet, 167 verhaftet.

Eine Seitenstraße unweit des Eiffelturms: Die Maison des Journalistes ist ein anonymer, ockerfarbener Flachdachbau. Diskret sind auch die Milchglasfenster und das Klingelschild, auf dem lediglich "Bureau" und "Gardien" - Wachmann - steht. Der irakische Journalist Dana Asaad hat in einer Sitzecke im ersten Stock Platz genommen. Auf dem Tisch liegt ein dicker Stapel Zeitungen. Wenn man nach unten ins Erdgeschoss schaut, sieht man eine weiße Büste der ermordeten regierungskritischen Journalistin Anna Politkowskaja. Asaad hat ein halbes Jahr in der Maison des Journalistes gelebt und ist kürzlich ausgezogen. "Im Vergleich zu anderen Bewohnern hatte ich Glück. Man hat nur am Telefon gedroht, mich umzubringen und versucht, mich zu entführen", sagt der 33-Jährige mit den Korkenzieherlocken. Er lächelt bitter, als er "Glück" sagt. Weil er während des Prozesses gegen Saddam Hussein als Übersetzer gearbeitet hat und kritische Artikel über das Regime Husseins veröffentlicht hat, stand er auf der Todesliste von dessen Anhängern. "Ich bekam ständig Panikattacken, wie ein Wahnsinniger", erinnert sich Asaad. Also flüchtete er nach Frankreich. "Die ersten Tage waren hart: Ich schlief auf der Straße, hatte kaum etwas zu essen", erzählt Asaad. Dann erfuhr er durch einen Freund von der Maison des Journalistes.

Für ihn kam das einer zweiten Rettung gleich: "Ich musste mir keine Sorgen mehr um einen Schlafplatz machen. Am wichtigsten war für mich aber, dass ich endlich wieder arbeiten konnte", sagt Asaad. "Ich bin ein Medien-Junkie. Ohne zu schreiben und die Nachrichten zu verfolgen, kann ich kaum existieren." In der Maison des Journalistes bekam er Tageszeitungen, ein Telefon und einen Internet-Anschluss. So konnte er mit Informanten im Irak kommunizieren und für Medien wie die Tageszeitung USA Today schreiben. Er konnte arbeiten, ohne den Atem seiner Verfolger zu spüren: "Deutsche Journalisten können sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie gut es sich anfühlt, Politiker kritisieren zu können, ohne zu zittern." Nach seinem Auszug aus der Maison des Journalistes hat er sogar einen festen Job gefunden. Asaad schreibt nun für die Webseite niqash.org, die Iraker mit aktuellen Informationen versorgen soll.

So wie Dana Asaad sollen auch die anderen Bewohner eine zweite journalistische Karriere in Europa starten. Das ist das Ziel von Danièle Ohayon, der Präsidentin des Hauses. Sie steht im Erdgeschoss. An den Wänden hängen Karikaturen von Reporter ohne Grenzen und Ohayons Schützlingen. Auf einer sind zwei Männern mit Revolvern zu sehen, die aus einem Treppenhaus flüchten, oben liegt eine Frauenleiche. "Russische Journalistenschule" steht unter dem Bild. Auf einer anderen Karikatur schießen die Handlanger eines Diktators nicht, sondern kehren, wie befohlen, Journalisten "ganz sanft" von der Straße.

"Wir haben dieses Haus gegründet, um geflohenen Journalisten ihre Würde wieder zurückzugeben", erzählt Ohayon. "Denn noch wichtiger als Essen und Trinken ist für Journalisten, dass sie publizieren können." Wichtig ist auch der Austausch zwischen den Bewohnern: "Im Haus fällt es ihnen leicht, Kontakte zu knüpfen, weil sie ein gemeinsames Schicksal teilen", sagt Ohayon.

Die Maison des Journalistes ist eine Art Babylon im Kleinformat. Manchmal fällt es Ohayon und dem Direktor des Hauses, Philippe Spineau, schwer, die Multi-Kulti-Truppe zu bändigen. Die Regeln im Haus hat Dokumentarfilmer Spineau auf ein Mindestmaß reduziert, es herrscht kontrollierte Anarchie. Mit einem Schmunzeln sagt Spineau: "Im Grunde genommen ist das einzige Verbot, dass im Arbeitsraum nicht geraucht werden darf." Aber viel verbieten will Spineau auch gar nicht. Das gilt auch für die Redaktionsarbeit: Das Haus hat eine eigene Internet-Seite, "Das Auge des Exils", auf der die Bewohner Beiträge veröffentlichen können. "Die stilistischen Unterschiede schockieren mich manchmal: Der eine schreibt so metaphernreich wie ein arabischer Märchenerzähler, der andere so nüchtern wie ein Beamter", meint Spineau. Andererseits würde diese bunte Schreibkultur "Das Auge des Exils" auch so interessant machen.

Die Aussichten von Spineaus Schützlingen, in Europa im Journalismus Fuß zu fassen, sind jedoch eher mittelprächtig. Von 180 Bewohnern, die das Haus seit seiner Gründung aufgenommen hat, haben nur 20 eine Stelle in einer Redaktion bekommen, zur Enttäuschung von Präsidentin Danièle Ohayon: "Wir wollen nicht, dass unsere Leute ständig ihre Leidensgeschichte erzählen. Sie sollen als Journalisten anerkannt werden." Sie ist fest davon überzeugt, dass die geflüchteten Journalisten jeder Redaktion gut tun würden: "Der Journalismus ist eine geschlossene Gesellschaft: Bürgerkinder, die die gleichen Eliteschulen besucht haben - und den gleichen Blick auf die Dinge haben." Die einst verfolgten Journalisten könnten neue Perspektiven eröffnen und jedes Medium bereichern - so wie der Iraker Dana Asaad. Er will jedoch nicht in Europa bleiben: "Mein Land braucht mich. Und ich werde stärker dorthin zurückkommen, weil ich in Europa gelernt habe, was Freiheit ist, und wie sie gelebt werden kann."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort