Politik macht Organspende zur Herzenssache

Berlin. Das Treffen brachte im Wortsinn eine Entscheidung - nämlich dass Deutschland beim Thema Organspende künftig die Entscheidungslösung bekommt. Darauf einigten sich gestern die Chefs aller fünf Fraktionen im Bundestag sowie Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP)

 Diese Niere wurde gerade einem Spender entnommen. Nun muss sie schnell zum Empfänger gebracht werden. Foto: Kasper/dpa

Diese Niere wurde gerade einem Spender entnommen. Nun muss sie schnell zum Empfänger gebracht werden. Foto: Kasper/dpa

Berlin. Das Treffen brachte im Wortsinn eine Entscheidung - nämlich dass Deutschland beim Thema Organspende künftig die Entscheidungslösung bekommt. Darauf einigten sich gestern die Chefs aller fünf Fraktionen im Bundestag sowie Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP). Jeder Bürger soll mindestens einmal im Leben gefragt werden, ob er nach seinem Ableben Körperteile abgeben will, um damit einem kranken Menschen zu helfen.Es hätte auch zwei andere Varianten geben können. Nämlich die sogenannte Widerspruchslösung, wie sie zum Beispiel in Spanien existiert. Dabei gilt jeder, der nicht vorher schriftlich ausdrücklich widersprochen hat, automatisch als Organspender. Das aber empfanden vor allem viele Christdemokraten als Angriff auf die Würde des Menschen.

Die gegenteilige Möglichkeit ist derzeit Gesetzeslage in Deutschland: die Zustimmungslösung. Organe dürfen nur entnommen werden, wenn der Betreffende vor seinem Tod eingewilligt und dies zum Beispiel in einem Spenderausweis dokumentiert hat. Oder wenn seine Hinterbliebenen einen solchen Schritt befürworten. Diese Regelung aber hat nicht funktioniert. Es mangelt an Spenderorganen. Rund 12 000 schwer kranke Patienten stehen aktuell auf den Wartelisten für eine Niere, Leber oder Lunge; etwa tausend sterben jährlich, bevor der rettende Eingriff unternommen werden kann.

Mit der gestrigen Verständigung ist neben dem Grundsatz auch das Verfahren klar: Die Gesundheitsexperten der fünf Fraktionen, inklusive der Linken, sollen nun die Details verhandeln und die Neuregelung dann als gemeinsamen Gruppenantrag in den Bundestag einbringen. Es ist nach der Entschließung gegen den Rechtsterrorismus am Dienstag schon das zweite Mal innerhalb einer Woche, dass die Unionsfraktion ein gemeinsames Vorgehen mit den Linken nicht mehr blockiert, wie sie es zuvor jahrelang getan hatte.

Im Detail stecken allerdings noch viele Tücken. "Absolut freiwillig" solle die Entscheidung sein, hieß es. Das ist vor allem Union und FDP wichtig. Andererseits betonte SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, dessen Nierenspende an seine Ehefrau die Debatte entscheidend vorangetrieben hatte, dass die zu findende Regelung "gesetzgeberischen Nachdruck" schaffen müsse. In der Praxis wird es, so schilderten Experten aller Fraktionen übereinstimmend, wohl darauf hinauslaufen, dass die Bürger mehrfach Material und Aufforderungen in die Hand gedrückt bekommen. So könnten die Krankenkassen allen ihren Mitgliedern entsprechende Briefe schicken, wie es dem Gesundheitsminister vorschwebt. Auch bei der Beantragung oder Verlängerung von Ausweisen und Führerscheinen soll die Spendenbereitschaft jeweils abgefragt werden. Bei so vielen Gelegenheiten wie möglich soll gefragt werden, entschied die Runde der Fraktionschefs, und zwar "mit so viel Nachdruck wie möglich". Unklar ist, wie die Bürger sich erklären sollen. So gibt es die Idee, dass jeder nicht nur Ja oder Nein antworten soll, sondern, falls er sich nicht entscheiden möchte, eine Formulierung wie "Darüber sollen nach meinem Tod meine Angehörigen entscheiden" ankreuzen muss. Denn wer zu Lebezeiten nichts bestimmt, überlässt weiterhin seinen Nachfahren die Entscheidung, das bleibt Rechtslage. Bahr ist diese Formulierung aber zu drängend. Offen ist auch, ob die Organspendebereitschaft in einem zentralen Register dokumentiert wird, oder wie jetzt nur durch Mitführen eines entsprechenden Ausweises. Ein Eintrag auf dem Chip der künftigen Gesundheitskarte wäre eine weitere Variante. Auch wie man mit Leuten umgeht, die gar nicht antworten, ist unklar.

Anreize, wie sie einige Gesundheitsexperten vorschlagen, kommen wohl in jedem Fall nicht in Frage. Zum Beispiel die Idee, Menschen, die zu einer Organspende bereit sind, selbst als Empfänger bevorzugt zu behandeln. So etwas sei "ethisch sehr fragwürdig" hieß es gestern in der Unionsfraktion, aber auch bei den Linken. Foto: berry/dapd

Meinung

Es fehlt nicht an Bewusstsein

Von SZ-KorrespondentWerner Kolhoff

Endlich werden die Unzulänglichkeiten des deutschen Organspendewesens angegangen. Die Entscheidungslösung kann dazu führen, dass die Zahl der Deutschen, die sich zu einer Organspende bereit erklären, deutlich ansteigt. In welchem Umfang, das hängt von den Details der Regelung ab, vor allem vom Grad der Verbindlichkeit, mit dem die Menschen gefragt werden. Im besten Fall wird künftig allen geholfen werden können, die auf eine Transplantation warten. Bei Umfragen zeigten sich schon bisher viele Bürger zu einer Organspende bereit. Nur wurden sie nie direkt um ihre Zustimmung gebeten und mussten ihre Haltung nie irgendwo erklären. Das Fehlen von Spenderorganen ist ein klassischer Fall von unzureichender Gesetzgebung, nicht von unzureichendem Bewusstsein. Dass jetzt eine Reform versucht wird, ist dem Beharren Frank-Walter Steinmeiers zu verdanken, der hier an der richtigen Stelle das Private politisch werden ließ. Und ebenso Volker Kauder von der Union, der aus Worten des Mitgefühls konkrete Taten machte. Und der nebenbei noch über seinen Schatten sprang und alle Parteien mit ins Boot holte.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Tierschicksale Sie wurden ausgesetzt, schweren Herzens abgegeben oder waren nach dem Tode ihrer Besitzer unversorgt. Jetzt leben sie im Bertha-Bruch-Tierheim oder bei Mitgliedern des Vereins Tiere in Not Saar. Und sie alle brauchen ein neues Zuhause. Wir
Tierschicksale Sie wurden ausgesetzt, schweren Herzens abgegeben oder waren nach dem Tode ihrer Besitzer unversorgt. Jetzt leben sie im Bertha-Bruch-Tierheim oder bei Mitgliedern des Vereins Tiere in Not Saar. Und sie alle brauchen ein neues Zuhause. Wir
Neue BelletristikDas Gehetzte der Berliner Republik thematisiert ein glänzender Roman von Thomas Melle, der im Fokus unserer Literaturseite steht. Daneben zwei nicht minder gute Romane von Sabine Gruber und Friedrich Kröhnke sowie die Aufforderung, Johann
Neue BelletristikDas Gehetzte der Berliner Republik thematisiert ein glänzender Roman von Thomas Melle, der im Fokus unserer Literaturseite steht. Daneben zwei nicht minder gute Romane von Sabine Gruber und Friedrich Kröhnke sowie die Aufforderung, Johann