Machtgehabe und Machtkampf um die Jahrhundertwende

Nationalistisches Ringen um Einfluss und gieriges Wetteifern um Ressourcen: An der Schwelle zum 20. Jahrhundert heizte sich das politische Klima in Europa gefährlich auf.

Wirtschaftlicher Aufschwung und kulturelle Blüte herrschten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in Zentraleuropa. Dennoch entbrannte zwischen den Groß- und Mittelmächten eine unversöhnliche Rivalität um Vormacht und Reichtum. Politiker, Militärs und Industrielle rangen in übersteigertem Nationalbewusstsein um mehr Kolonien , mehr Absatzmärkte und mehr Kontrolle.

Für das 1871 gegründete Deutsche Reich schloss Reichskanzler Otto von Bismarck Bündnisse mit Österreich , Rumänien, Italien und Russland. Die Ziele, Frankreich zu isolieren und politische Gleichgewichte zu schaffen, schienen bald erreicht. Doch mit der Entlassung Bismarcks im Jahr 1890 brach das Bündnissystem schnell zusammen.

Schon 1904 war Bismarcks Albtraum Realität: Frankreich hatte sich nicht nur mit Russland, sondern auch mit Großbritannien verbündet. Graf von Schlieffen legte 1905 eine aktualisierte Version seines Plans für einen Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland vor, Generalstabschef Moltke drängte ab 1908 auf einen Präventivkrieg. Die Paranoia wuchs und der einzige Bündnispartner des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarn, war in Machtkämpfe auf dem Balkan verwickelt. Den Zorn der Briten hatte der Kaiser erregt, da er ab 1898 eine Verstärkung der deutschen Schlachtflotte anstrebte. Auch der Zar fühlte sich bedroht: Er begann, immer mehr in Armee und Marine zu investieren.

Unterdessen hatten die Nationen außerhalb Mitteleuropas längst mit den Säbeln gerasselt: Serben kämpften gegen Bulgaren um die Vorherrschaft auf dem Balkan (1885-86), Russen gegen Japaner um Korea (1904-05), Briten gegen Franzosen um den Sudan (1899). Auch in Übersee floss Blut: Die Buren lehnten sich in Südafrika gegen die Briten (1899-1902) auf, die Boxerbewegung in China gegen Europäer, Amerikaner und Japaner (1900).

Weil sich Frankreich und Großbritannien 1904 in der "Entente cordiale" über Kolonien geeinigt hatten, wollte das Deutsche Reich dieses Bündnis durch zwei ungeschickte Aktionen in Marokko untergraben: 1905 betonte Wilhelm II. die Unabhängigkeit des Sultans, 1911 sandte er das Kriegsschiff "Panther" nach Agadir. Es entstand eine explosive Atmosphäre: Während sich die Großmächte in einer Mischung aus Angst und Hochmut, aber ohne klares Bewusstsein über die Konsequenzen, unbedachte Machtkämpfe lieferten, rangen auf dem Balkan junge Nationalstaaten um Einfluss. Österreich-Ungarn annektierte 1908 Bosnien und Herzegowina, auf welche auch Serbien Ansprüche stellte. Schließlich brach 1912 der Erste Balkankrieg aus, ein Jahr später der Zweite. In Österreich wiesen Erbherzog und Thronfolger die Kriegshetzer zurück, die Großmächte griffen aufgrund der Bündnisse nicht direkt in die Balkankriege ein. Jedoch verschärften sich internationale Spannungen und Wettrüsten. Bald schien jeder der europäischen Herrscher zu glauben, dass ein Krieg unvermeidlich sei.

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