Interview von 1999 „Wir wussten, wovon wir reden“

Saarbrücken · Zehn Jahre nach der Wende kritisierte der Altbundeskanzler im SZ-Interview die mangelnde Geduld beim Aufbau Ost - "Ohne Nachrüstung wäre die geschichtliche Entwicklung ganz anders verlaufen"

Ein Jahrzehnt nach der Wende sprach der Altkanzler in seinem letzten Interview mit der SZ über die deutsche Einheit. Dabei gab er auch persönliche Einblicke. Hier einige Auszüge aus dem Gespräch:

Zehn Jahre ist es jetzt her, dass Sie das spektakulärste politische Ereignis der Nachkriegsgeschichte als Kanzler mitgestaltet haben. Können Sie auch heute noch darüber staunen, dass die Mauer gefallen ist?

KOHL Ja. Ich war immer davon überzeugt, dass die deutsche Einheit erreicht werden könnte. Ich erinnere mich noch gut an ein sehr dramatisches Gespräch: Als Andropow Generalsekretär (der damaligen ­UdSSR, die Redaktion) wurde, war ich zu Gesprächen in Moskau, bei denen auch Außenminister Gromyko dabei war. Gleich zu Beginn meinte Gromyko ohne Umschweife, ich sei ein Kriegstreiber, weil ich immer an der deutschen Einheit festhielte. Ich sagte darauf zu Andropow: Herr Generalsekretär, wenn Sie jetzt aus dem Fenster schauen zur Moskwa, und hier stünde mitten in der Stadt eine Mauer, die Ihre Frau und Ihre Mutter voneinander trennt, und Sie wollten die Mauer überwinden – wären Sie dann ein Kriegstreiber?

Und was antwortete er?

KOHL Nichts, das Gespräch darüber war beendet.

Welchen Anteil hat der sowjetische Staatschef Gorbatschow an der Einheit?

KOHL Als Gorbatschow Generalsekretär wurde, wusste er nicht, dass die Sowjetunion praktisch bankrott war. Als er dies erkannte, war ihm klar, dass er etwas ändern musste. Das war die Geburtsstunde von Perestroika. Aber auch in Ungarn hatten sich führende Kräfte niemals mit dem totalitären Regime abgefunden und entsprechende Reformen eingeleitet. Hinzu kam die Situation in Polen, mit der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc – und ein Glücksfall der Geschichte: Der Papst. Ohne den polnischen Papst hätte die Solidarnosc nicht überlebt, davon bin ich fest überzeugt.

Wie war damals, als die Mauer fiel, Ihre persönliche Befindlichkeit? Waren Sie euphorisch?

KOHL Überhaupt nicht. Es war ja eine gefährliche Situation. Die Mauer wurde in der Nacht (vom 9. auf den 10. November 1989, die Redaktion) niedergerissen. Ich war zu diesem Zeitpunkt auf Staatsbesuch in Polen und kam erst am 10. November nach Berlin. Als ich auf dem Weg zum Schöneberger Rathaus war, um eine Rede zu halten, rief Gorbatschow in Bonn an. Mich erreichte die Frage von ihm, ob es zutreffend sei, dass die sowjetischen Einrichtungen und Soldaten durch diesen Aufruhr gefährdet seien. Das hatten ihm die DDR-Führung und der KGB eingeredet. Das war der gefährlichste Moment überhaupt. Ich versicherte ihm, dass diese Informationen falsch seien. Er glaubte mir. Wenn Gorbatschow die Panzer rausgelassen hätte, wäre alles anders gekommen.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass so viele Bürger enttäuscht sind über das neue Deutschland? Waren die Erwartungen zu hoch . . .

KOHL Ja, natürlich . . .

. . . oder sind falsche Hoffnungen geweckt worden?

KOHL Nein, aber die Probleme waren größer, als man damals erkennen konnte. Wissen Sie, wir haben im Westen solche Erwartungen nicht gehabt, weil wir kein Beispiel hatten.

Was meinen Sie: Konnte diese Leistung, Europa zu einen und zu einigen, nur Persönlichkeiten gelingen wie Ihnen und Präsident Mitterrand, also der Generation, die das Kriegsgeschehen noch unmittelbar erlebt hat – oder hätte das auch die Enkel-Generation hingekriegt?

KOHL Auch wir haben an die Politik unserer Vorgänger wie Schuman, de Gaulle, Adenauer, Brandt und Schmidt angeknüpft. Aber die Kernthese, die Sie gerade formuliert haben, halte ich für richtig. Es ist schon ein Unterschied, ob Sie über den Krieg lesen oder ob Sie ihn miterlebt haben. Mitterrand wurde im Krieg verwundet und kam in deutsche Kriegsgefangenschaft. Ich habe in meiner Heimatstadt Ludwigshafen an die hundert Bombenangriffe miterlebt. Mit 15 Jahren wurde ich noch vereidigt, von der Kinderlandverschickung zur Heimatflack und Wehrertüchtigung. Als wir daran gingen, eine umfassende Freiheits- und Friedensordnung für unseren Kontinent aufzubauen, wussten wir, wovon wir reden.

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