Kein Platz für Träume

Nachts ist kein Platz für Träume, nachts ist nicht mal genug Platz zum Schlafen. Saintrose Avril schiebt die Plastikplane beiseite, und der Blick fällt auf Holzlatten und Pappen, die auf Steinen liegen. Kaum einen Meter breit ist das harte Lager und dient doch als Ruheplatz für drei. "Hier schlafe ich mit zweien meiner Kinder", sagt die schmale Frau

 Von den 20 Millionen Kubikmetern Schutt in Haiti sind bis heute nur fünf Prozent beseitigt. Foto: dpa

Von den 20 Millionen Kubikmetern Schutt in Haiti sind bis heute nur fünf Prozent beseitigt. Foto: dpa

Nachts ist kein Platz für Träume, nachts ist nicht mal genug Platz zum Schlafen. Saintrose Avril schiebt die Plastikplane beiseite, und der Blick fällt auf Holzlatten und Pappen, die auf Steinen liegen. Kaum einen Meter breit ist das harte Lager und dient doch als Ruheplatz für drei. "Hier schlafe ich mit zweien meiner Kinder", sagt die schmale Frau. Seit über einem Jahr harren die 33-Jährige und ihre drei Kinder in dem primitiven Zelt aus Planen und Stofffetzen aus. Die Notunterkunft war als Provisorium gedacht und ist Dauerlösung geworden. Wie für so viele in Haiti nach dem Jahrhundertbeben.

Und so träumt Saintrose tagsüber von mehr Platz und festen Wänden, von Licht und Luft und dem Leben, wie es vor dem 12. Januar 2010 war. Und dass endlich etwas passiert, dass jemand kommt und ihr eine Perspektive bietet oder das zurückgibt, was sie hatte, bevor sich die Erde unter Haitis Hauptstadt Port-au-Prince auftat. Bis heute sind sie nicht in die Todesstadt zurückgekehrt: "Port-au-Prince hat mir meinen Mann Claude genommen", sagt Saintrose. Ihn begruben die Trümmer des einstürzenden Hauses in Bel Air. So wie 220 000 andere Menschen.

Die Familie Avril hatte auch vor der Katastrophe nicht viel, Saintrose verkaufte im Zentrum von Port-au-Prince Gemüse. Claude arbeitete, wenn es die Gelegenheit dazu gab. Aber die Avrils hatten ein Leben, eine feste Unterkunft und manchmal auch genügend zu essen. All das fehlt jetzt. Heute bringt der Pastor von Papatam einmal in der Woche ein paar Säcke Reis und Bohnen für die 180 Familien, die in einem Zeltlager leben.

Orte wie Papatam gibt es viele in Haiti. Doch es gibt noch schlimmere. Zum Beispiel Port-au-Prince. Wer die Stadt ein Jahr nach dem Beben besucht, hat den Eindruck, das Unglück liege erst kurz zurück. Im Zentrum steht die Ruine des weißen Präsidentenpalastes als Mahnmal des Stillstands. Neben den Schutthaufen türmen sich an den Straßenecken die Müllberge, die nach Einbruch der Dunkelheit abgefackelt werden, Frauen hocken auf Trümmern und verkaufen alles von Apfelsinen bis Zahnbürsten, gleich daneben verrichten die Menschen ihre Notdurft.

Aus einer Stadt in Trümmern ist eine Stadt auf Trümmern geworden. Es gab schon vor dem Beben Ecken in Port-au-Prince, die wirkten, als habe Gott sie verlassen. Orte, die das Wort Slum nur unzureichend beschreibt. Orte, wo sich zwischen Pfützen und Abfall die Probleme versammeln, die Haiti zu einem Stück Afrika in Amerika machen: Dreck, Hunger, Armut, Gewalt und die fast vollständige Abwesenheit eines funktionierenden Staates. In diesem ewigen Chaos wirken die knapp 500 Zeltstädte, denen man in Port-au-Prince an jeder Ecke begegnet, beinahe wie sozialer Wohnungsbau. Zwischen einer und 1,5 Millionen Menschen leben in diesen Camps. Hilfsorganisationen versorgen die Menschen mit Trinkwasser, Lebensmitteln, Latrinen und seit der Cholera auch mit Chlor und Seife. Viele Menschen finden hier trotz der Enge bessere Bedingungen vor als vorher.

Julie Schindall arbeitet für die britische Hilfsorganisation Oxfam, die ein Zeltlager mit Frischwasser versorgt, das auf dem Areal eines exklusiven Golfclubs errichtet wurde. Dort leben zehntausende Menschen. Schindall ist seit dem Beben in Haiti, und sie ist sichtlich bemüht, die Fortschritte zu benennen: "Wenn wir keine Besserung in der Zukunft sähen, könnten wir gleich gehen." Aber es fehle der große Wurf der Regierung zum Wiederaufbau.

Aber wie soll man von einer Regierung die Bewältigung einer Jahrhundertkatastrophe erwarten, die schon vorher mit dem Stopfen der Schlaglöcher auf den Straßen überfordert war? Die staatlichen Strukturen lagen bereits weit vor dem Beben in Trümmern. Die Katastrophe habe die sozialen Probleme Haitis nicht hervorgerufen, sondern nur sichtbar gemacht, sagt Edmond Mulet, Chef der UN-Stabilisierungsmission Minustah. Die meisten Menschen in den Camps seien nicht Opfer des Bebens, sondern der sozialen und menschlichen Tragödie dieses Landes.

Und nun warten die Haitianer und die internationale Gemeinschaft auf den neuen Präsidenten, der erstmal nicht kommt. Nach der chaotischen und von Betrug überschatteten Wahl vom 28. November hat der Wahlrat CEP die für den 16. Januar geplante zweite Runde auf unbestimmte Zeit verschoben. Das verzögert den Wiederaufbau weiter. Denn die internationale Gemeinschaft wartet dringend auf eine handlungsfähige Regierung und hält Hilfsgelder in Milliardenhöhe so lange zurück.

 Von den 20 Millionen Kubikmetern Schutt in Haiti sind bis heute nur fünf Prozent beseitigt. Foto: dpa

Von den 20 Millionen Kubikmetern Schutt in Haiti sind bis heute nur fünf Prozent beseitigt. Foto: dpa

Saintrose Avril, die Mutter in Papatam, setzt große Hoffnung auf einen neuen Präsidenten: "Préval hat uns alleine gelassen. Nach dem Beben und bei der Cholera", sagt sie über den früheren Präsidenten. Dann klemmt sie ihren großen Bastkorb unter den Arm und zieht barfuß in die nahen Felder, wo sie Mais und Bohnen anbaut. Ihr Weg führt sie vorbei an Holzhäusern, die von der Bonner Welthungerhilfe für die 180 Familien von Papatam gebaut werden. Es sind einfache Hütten mit 20 Quadratmetern Wohnfläche. Saintrose kommt das wie Luxus vor. Und so gibt sie sich auf dem täglichen Weg in die Felder der Tagträumerei hin - von einem eigenen Bett für sich und einem für ihre Kinder.

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