"Gebt uns unsere Stimmen zurück"

Teheran. Die letzte Großdemonstration dieser Art hatte es vor 30 Jahren im Iran gegeben, als Großajatollah Ruhollah Khomeini aus Frankreich nach Teheran zurückkehrte und die Islamische Republik ausrief. Alle anderen Massendemonstrationen waren für den Staat und von diesem organisiert

Teheran. Die letzte Großdemonstration dieser Art hatte es vor 30 Jahren im Iran gegeben, als Großajatollah Ruhollah Khomeini aus Frankreich nach Teheran zurückkehrte und die Islamische Republik ausrief. Alle anderen Massendemonstrationen waren für den Staat und von diesem organisiert. Hunderttausende nahmen an den Kundgebungen gestern teil, Augenzeugen sprachen sogar von mehr als einer Million. Selbst schwangere Frauen mischten sich unter die Massen. Und alle hatten nur eine Forderung: "Gebt uns unsere Stimmen zurück." Nach Korrespondenten-Berichten fielen gestern auch Schüsse. Mindestens ein Demonstrant wurde getötet.

Hintergrund der Proteste sind Vorwürfe der Wahlfälschung. Nach Angaben des Innenministeriums bescherten die Wähler Präsident Mahmud Ahmadinedschad einen Erdrutschsieg. Der Gegenkandidat, Mir Hussein Mussawi, der in der Folge zum Führer der gesamten Opposition avancierte, hatte dem Innenministerium gleich nach den ersten Zählungen Wahlmanipulation vorgeworfen. Schon bald erhielt er Unterstützung von anderen Oppositionsparteien und sogar Gruppen des Klerus. Anhänger Mussawis stürmten auf die Straßen und lieferten sich seit Samstag Straßenschlachten mit der Polizei und Ahmadinedschads Anhängern.

"Wir haben euch gewarnt, wenn ihr uns betrügt, machen wir euch das Leben zur Hölle", riefen die Demonstranten in den vergangenen zwei Nächten und auch gestern. "Ihr könnt uns um ein oder zwei Prozent betrügen, aber nicht um 53 Prozent", erschallte es an die Adresse des Innenministeriums gerichtet. Ahmadinedschad hatte am Vortag die Demonstranten als "unwichtig" abgetan und abschätzig mit enttäuschten Fußball-Hooligans verglichen, die nach einem verlorenen Endspiel ihren Frust ablassen. "Ahmadinedschad, hier kommen die Hooligans", riefen die Demonstranten.

Die Protestwelle wurde auch vom obersten Führer des Landes, Ajatollah Ali Chamenei, wahrgenommen. Der hatte Ahmadinedschad zwar schon zu seinem Wahlsieg gratuliert. Doch bei einem Treffen mit Mussawi am Sonntag versprach er dem Oppositionsführer, dass seine Beschwerde gründlich geprüft werde. "Entweder wird die Wahl annulliert, und es gibt Neuwahlen oder die Krawalle gehen weiter", sagte eine Mussawi-Anhängerin. Ein anderer fügte sarkastisch hinzu: "Einen Rücktritt Ahmadinedschads würden wir auch annehmen."

"Die Menschen sehen sich im Recht und haben deshalb keine Angst mehr", flüsterte ein Polizist am "Platz der Revolution" in der Nähe der Teheraner Universität, wo die Demonstration beginnen sollte. Das Innenministerium hatte die Demonstration verboten. Die Polizei hatte mit harten Konsequenzen gedroht. In der ganzen Umgebung bezogen Sicherheitskräfte Stellung. "Jeder hätte Angst bekommen müssen, hatte aber anscheinend keine", sagte ein Buchhändler in einem Laden gegenüber der Universität. Auch er habe eine solche Menge seit der Islamischen Revolution nicht mehr gesehen.

"Ich habe nichts außer meinen Anhängern, und mit denen gehe ich bis zum Ende", hatte Mussawi nach den Wahlen verkündet. Seine Anhänger erwarten auch nichts anderes. "Dein Schweigen wäre Verrat", schrien sie.

Die Unterstützung für Mussawi wächst täglich: Reformer, Akademiker, Künstler und sogar Geistliche. Neben den moderaten Ex-Präsidenten Mohammed Chatami und Akbar Haschemi Rafsandschani sollen auch traditionelle Kleriker im Land Zweifel an den Wahlergebnissen bekommen haben. "Nur eine Neuwahl kann die Menschen beruhigen, das wird auch Ahmadinedschad bald einsehen müssen", sagte ein Universitätsprofessor, der an der Demonstration teilnahm.

Ein erstes Zeichen für die wachsende Nervosität der Regierung war Ahmadinedschads kurzfristige Absage einer geplanten Reise nach Russland. Er hatte dort ursprünglich mit Kremlchef Dmitri Medwedew zusammentreffen wollen. Doch die Ankündigung der Opposition, in Massen gegen den nach ihrer Ansicht deutlichen Wahlbetrug zu protestieren, hielt ihn zu Hause.

Hintergrund

Berlin und Brüssel forderten die Führung in Teheran auf, den Vorwurf der Wahlfälschung aufzuklären. "Die Bundesregierung ist sehr besorgt über die Situation", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Zugleich verurteilte sie die "Verhaftungswelle" nach der Wiederwahl von Ahmadinedschad und die Behinderung ausländischer Medien. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier nannte das Vorgehen iranischer Sicherheitskräfte gegen Demonstranten und ausländische Journalisten inakzeptabel. Er bestellte den iranischen Botschafter in Berlin, Ali Reza Sheikh Attar, gestern ins Auswärtige Amt ein.

Die EU-Außenminister betonten bei einem Treffen gestern in Luxemburg zugleich den Wunsch nach einem politischen Dialog mit der Führung in Teheran. Zudem hofft die EU unverändert auf eine Wiederaufnahme der Gespräche über das umstrittene iranische Atomprogramm. dpa

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort