Disziplin im Angesicht der Naturgewalt

Der Tokio-Tower steht schief. Mit bloßem Auge würde man es nicht merken, doch dort, wo an anderen Frühlingswochenenden Besucherschlangen darauf warten, die 333 Meter hohe Stahlkonstruktion, eine Kopie des Eiffelturms, zu besteigen, steht man an diesem Sonntag vor einem geschlossenen Tor. Medienberichten zufolge soll sich das Gerüst in sich verzogen und die Spitze einen Knick bekommen haben

 Der Tsunami hat die nordjapanische Stadt Onagawa dem Erdboden gleich gemacht. Fotos: dpa

Der Tsunami hat die nordjapanische Stadt Onagawa dem Erdboden gleich gemacht. Fotos: dpa

Der Tokio-Tower steht schief. Mit bloßem Auge würde man es nicht merken, doch dort, wo an anderen Frühlingswochenenden Besucherschlangen darauf warten, die 333 Meter hohe Stahlkonstruktion, eine Kopie des Eiffelturms, zu besteigen, steht man an diesem Sonntag vor einem geschlossenen Tor. Medienberichten zufolge soll sich das Gerüst in sich verzogen und die Spitze einen Knick bekommen haben. Wohl nie hat der Tokio-Tower seine Rolle als Wahrzeichen der japanischen Hauptstadt besser erfüllt.Denn zwei Tage nach dem schwersten Beben, das je in Japan gemessen wurde, scheint die gesamte Bevölkerung in ihren Grundfesten erschüttert zu sein. Obwohl die Mehrheit der Japaner keinen Schaden erlitten hat, erfüllt viele die Sorge, wie ihr Land die Katastrophe überstehen wird - oder ob das eigentliche Desaster womöglich noch bevorsteht, sei es in Form eines nuklearen Super-Gau oder eines wirtschaftlichen Absturzes. Es sind Tage des Fernsehens und Internetsurfens, zumindest dort, wo die Kommunikations-Infrastruktur noch funktioniert. In vielen Gebäuden hat das Beben die elektrischen Geräte beschädigt, die Handynetze sind überlastet, die Internetleitungen instabil. Der Ausfall mehrerer Atomkraftwerke beeinträchtigt die Elektrizitätsversorgung und mit ihr den technologisch hochgerüsteten japanischen Alltag.

In der sonst pulsierenden 35-Millionen-Menschen-Metropole Tokio ist das öffentliche Leben weitgehend zum Erliegen gekommen. Kulturveranstaltungen und Sportwettkämpfe sind für die nächsten zwei Wochen abgesagt worden, auch ein Teil der Geschäfte und Restaurants bleibt geschlossen. Dabei sind die Bewohner von Tokio und im dicht besiedelten Süden des Landes größtenteils mit einem Schrecken davongekommen. Zumindest einige wagen deshalb zwei Tage nach der Katastrophe schon wieder eine gewisse Normalität. Im Meiji-Schrein, einem der schintoistischen Hauptheiligtümer, finden Hochzeitszeremonien statt. "Natürlich haben wir diskutiert, ob man an einem Tag wie heute heiraten kann", sagt ein Gast. "Aber wem würde es nutzen, wenn die Feier heute abgesagt worden wäre?" Ein Nachbeben lässt die Erde zittern, doch die Menschen bleiben ruhig. "Nach so einem großen Erdschock fühlt man sich geradezu sicherer, weil die Nachbeben ja nie so schlimm sind wie das vorhergegangene", sagt der Hochzeitsgast. Vor dem hölzernen Tor des Schreins fegen Angestellte penibel die Kieswege, als wäre dies die wichtigste Aufräumaufgabe, die derzeit zu bewältigen wäre.

Disziplin im Angesicht der Naturgewalten ist in Japan seit jeher Teil der Kultur. Dass jederzeit die Erde beben kann, wissen die Japaner und sind daher besser als jedes andere Volk auf den Ernstfall vorbereitet (siehe Interview rechts).

Vielerorts dürfte die Vorbereitung auch Massenpaniken verhindert haben. In Tokio wurden tausende Gebäude geordnet geräumt. An Bahnhöfen und Flughäfen sorgten Helfer für Ordnung. Techniker arbeiteten vorbereitete Prioritätenlisten ab, um die Infrastruktur schnellstmöglich wieder zum Laufen zu bekommen. Viele Bahnverbindungen waren am Samstag wieder im Einsatz. Selbst als sich die Nachrichten über die drohende Katastrophe in den Atomkraftwerken verbreitete, blieb die Reaktion im nur 250 Kilometer entfernten Tokio besonnen.

Doch das Beben findet nicht nur unter den Füßen, sondern auch im Kopf statt. Obwohl im Fernsehen noch immer die Bilder von Rettungsmaßnahmen laufen, beginnt in Medien und Internetforen bereits die Diskussion über die Frage, in welcher Form die Katastrophe auch über die bisher Verschonten hereinzubrechen droht. Denn die Naturgewalt hat ein politisch und wirtschaftlich durchgerütteltes Land getroffen, dem der Glaube an sich selbst zunehmend schwer fällt. Seitdem Ende der Achtziger die große Immobilien- und Investitionsblase platzte, die Japan nach dem Zweiten Weltkrieg ein unvergleichliches Wirtschaftswunder bescherte, befindet sich Nippon im Dauerkrisenmodus. Auf jeden Hoffnungsschimmer folgte eine erneute Enttäuschung. Japanische Kommentatoren warnen bereits davor, dass dem reellen Tsunami ein wirtschaftlicher folgen wird. Seit Monaten kämpft die Regierung gegen Rezession und Deflation. Alle Versuche, die Konjunktur mit staatlichen Geldspritzen wieder flott zu bekommen, haben bisher nur dazu geführt, dass die Schulden auf immer neue Höchststände geklettert sind, sodass die internationalen Finanzmärkte inzwischen die Kreditwürdigkeit der drittgrößten Wirtschaftsmacht infrage stellen. Dabei wird die Regierung für den Wiederaufbau der zerstörten Städte einmal mehr gewaltige Summen aufbringen müssen. Japans letztes großes Erdbeben, das 1995 über 6400 Todesopfer forderte und 300 000 Menschen um ihre Häuser brachte, kostete das Land über 100 Milliarden US-Dollar, rund 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Diesmal scheint die Verwüstung noch größer zu sein.

"Wem würde es nutzen, wenn die Feier heute abgesagt worden wäre?"

Ein Hochzeitsgast

in Tokio

Auf einen Blick

 Zwei Menschen schieben einen älteren Mann in einem Einkaufswagen durch eine verwüstete Straße in Ishinomaki.

Zwei Menschen schieben einen älteren Mann in einem Einkaufswagen durch eine verwüstete Straße in Ishinomaki.

 Der Tsunami hat die nordjapanische Stadt Onagawa dem Erdboden gleich gemacht. Fotos: dpa

Der Tsunami hat die nordjapanische Stadt Onagawa dem Erdboden gleich gemacht. Fotos: dpa

 Zwei Menschen schieben einen älteren Mann in einem Einkaufswagen durch eine verwüstete Straße in Ishinomaki.

Zwei Menschen schieben einen älteren Mann in einem Einkaufswagen durch eine verwüstete Straße in Ishinomaki.

Bei der Erdbebenkatastrophe in Japan sind nach bisherigen Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes keine Deutschen gestorben. "Wir haben weiterhin keine Hinweise, dass Deutsche unter den Opfern sind", sagte Außenminister Guido Westerwelle gestern. Dies sei aber noch keine endgültige Einschätzung, die Lage in Japan sei noch sehr unübersichtlich. In der Krisenregion im Nordosten Japans lebten Westerwelle zufolge etwa 100 Deutsche. Zu etwa der Hälfte von ihnen habe die Botschaft Kontakt. Ob sich die anderen zum Zeitpunkt des Erdbebens in der Region aufhielten, sei unklar. 25 Deutsche sollten in der Nacht ausgeflogen werden. dpa

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