Die lange Reise zur Sprache Voltaires

Samstagnachmittag im lothringischen Alsting, Florian wird vier Jahre alt. Es gibt Käsekuchen und Muffins, die Kinder spielen, die Gespräche der Eltern drehen sich um ein einziges Thema: das französische Erziehungssystem, Education Nationale genannt.

 Lehrerin Dominique Baitinger unterrichtet die erste Grundschulklasse, CP genannt, des Centre Scolaire St. Joseph la Providence im französischen Forbach. Hier hilft sie dem kleinen Samuel bei einer Aufgabe. Fotos: Oliver Dietze

Lehrerin Dominique Baitinger unterrichtet die erste Grundschulklasse, CP genannt, des Centre Scolaire St. Joseph la Providence im französischen Forbach. Hier hilft sie dem kleinen Samuel bei einer Aufgabe. Fotos: Oliver Dietze

 Der sechsjährige Thomas übt an der Tafel nach Vorlagen die komplizierte französische Rechtschreibung.

Der sechsjährige Thomas übt an der Tafel nach Vorlagen die komplizierte französische Rechtschreibung.

Florians Eltern sind vor einigen Jahren nach Alsting gezogen und gehören, wie die anderen Eltern auch, zur deutschen Gemeinde im grenznahen Lothringen.

Jetzt, wo die Kinder ins Alter für die Ecole Maternelle (Vorschule) gekommen sind, finden die Eltern die Idee großartig, dass der Nachwuchs ja auch zweisprachig aufwachsen könne. Doch niemand hatte den Schwierigkeitsgrad der französischen Sprache und die Macht der Education Nationale auf der Rechnung. Da geht es um nationale Vorgaben, die erfüllt werden müssen. Um ernste Lernziele, die kontrolliert werden - und um Autorität. Mal eben spielerisch und ganz nebenbei zweisprachig werden? Das ist eine Illusion.

"Die Kinder werden ermahnt, beim Malen und Ausschneiden nur ganz leise zu reden", empört sich Susanne, "es geht mir in Frankreich viel zu schulisch zu". "Meine Nichte geht in Saarbrücken in einen Waldkindergarten und darf sogar im Matsch spielen", erzählt Meike, "ich habe der Maîtresse gesagt, sie solle doch auch mal mit den Kindern durch den Wald toben." Die Maîtresse (Erzieherin) habe kühl erklärt, dass dies im Plan nicht vorgesehen sei. Das alles wäre ja noch zu verkraften, wenn die Kinder wenigstens sprachlich perfekt wären. Aber weit gefehlt, sie reden in kurzen, linkischen Sätzen. "Auch die französischen Kinder können ihre eigene Sprache noch nicht gut", sagt die Maîtresse, "das ist ganz normal."

Inzwischen ist die Anmeldung für die Grundschule, die Ecole Primaire, ins Haus geflattert. Für die meisten deutschen Eltern eine willkommene Gelegenheit, aus der Education Nationale und dem unerwartet mühevollen Spracherwerb auszusteigen und die Kinder lieber für ein weiteres Kindergartenjahr in Deutschland anzumelden. Nur zwei deutsche Kinder bleiben übrig, um das Experiment Zweisprachigkeit fortzusetzen.

Vier Jahre später

Vier Jahre später, in einer Forbacher Grundschulklasse am Centre Scolaire de la Providence. Die Kinder sind acht bis neun Jahre alt, ihre Sprachkenntnisse sind begrenzt, "limité", wie Madame Hehn sagt. Sie betreut immer die Vierer-Klassen und hat den Auftrag von der Education Nationale, die Zügel etwas anzuziehen. Bisher haben die Kinder aus einer bunten Fibel gelesen, gesungen, kleine Gedichte auswendig gelernt, Ungetüme wie ,,jevaisaucirqueavecmaman" (ich gehe mit Mama in den Zirkus) voneinander getrennt und vorbereitete Diktate geschrieben.

Nun hat Madame Hehn zum ersten Mal einen kleinen Aufsatz schreiben lassen, "expression libre" genannt. Es ist der erste Trittversuch der kleinen Franzosen auf dem glatten Parkett ihrer Muttersprache, der Sprache Voltaires, von der hier aber noch keine Spur ist. Madame Hehn kommentiert das Ergebnis so: "Moi pas parler français, moi venir du jungle" (Ich nix sprechen Französisch, ich kommen aus Dschungel). Die Klasse lacht sich kaputt, Madame Hehn weiß, dass jedes Jahr das gleiche unbeholfene Resultat herauskommt, von Korsika bis Forbach.

Ab jetzt werden unregelmäßige Verben gebimst, die Texte werden schwieriger, an der Ausdrucksform wird gefeilt, "gros mots" (unanständige Wörter) sind verboten und wer "caca boudin" (Kackwurst) sagt, fliegt fünf Minuten raus. Große Frage nach dem vierten Schuljahr: Können die Kinder nun richtig Französisch? Madame Hehn zuckt mit den Schultern: "Es reicht, um sich verständlich zu machen und eine Scheibe Schinken zu kaufen. Aber das ist nicht die französische Sprache." Und da Sprache und "civilisation" (Kultur) untrennbar miteinander verbunden seien, können die Kinder, egal ob sie deutsche oder französische Eltern haben, auch mit neun Jahren ihre Sprache nicht wirklich gut.

Acht Jahre später

Acht Jahre später. Madame Oberlé unterrichtet die Abschlussklasse für das Bac S (das naturwissenschaftliche Abitur) am Lycée Jean Moulin in Forbach. Madame Oberlé ist agrégée de lettres, also fachlich besonders gut ausgebildet. Sie hasst orthografische Fehler, Betroffenheitsgelaber, die "Ich"-Form, falsche Zeitenfolge und billigen Wortschatz. Wenn ihr etwas missfällt, schreibt sie mit Rotstift "Oh! Horreur!" (Grauenvoll!) an den Rand der Arbeit. Für Madame Oberlé ist perfektes Französisch der subtilste Ausdruck von Bildung und "civilisation".

Sie denkt, dass vielleicht zehn Schüler aus der Klasse ein Niveau erreichen könnten, das dem eines französischen Bildungsbürgers würdig ist. Sofern sie eine Ecole Préparatoire besuchen, wo weiter an ihrer "culture générale" gefeilt werden wird. Damit sie von Ironie bis Pathos alle Variationen auf der sprachlichen Tonleiter beherrschen lernen.

Ebenso das elegante Jonglieren mit einem Thema, das Einbauen von Zitaten großer Denker und historischer Ereignisse in ihre Texte, untermauert durch die gekonnte Anordnung der Argumente. Erst, wenn am Schluss auch eine ebenso logische wie verblüffende Conclusion folge, dann dürfe man Voltaire, den großen Meister, sprachlich mal ganz zart am Ärmel zupfen.

Die deutschen Eltern aus Alsting und Umgebung haben die hehren Ansprüche an die Zweisprachigkeit aufgegeben. Ihre Kinder sind fast alle in Saarbrücken zur Schule gegangen, können sich aber in Frankreich ganz gut verständlich machen und eine Scheibe Schinken kaufen. Das reiche ihnen, sagen sie heute. Für Madame Oberlé zeugt es von geistiger Bequemlichkeit, wenn man nicht den Ehrgeiz habe, perfekt Französisch zu sprechen. Es sei eine Lebensaufgabe.

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