Das schwere Gedenken an die Hölle von Ypern

Ypern · Normalerweise treffen sich die EU-Größen in Brüssel. Diesmal haben sie ihren Gipfel nach Ypern verlegt, um an die Schrecken des Ersten Weltkriegs zu erinnern. Hunderttausende Soldaten starben nahe der belgischen Stadt.

"Ich muss einfach weinen, wenn ich hier stehe", sagt Cathy und lässt sich von ihrem Mann Gerhard in den Arm nehmen. Jedes Jahr kommen sie hierher - inzwischen mit ihren drei Kindern Rolf, Peter und Steven. Eine deutsch-britische Familie, die in Ypern vor den endlosen Reihen weißer Kreuze steht. Die wenig später in Langemarck vor den gleichen Reihen verharrt, auf denen nur kleine Grabplatten zu sehen sind. Und jedes Jahr setzen sich die Eltern mit ihren Söhnen auf eine Bank und erzählen der nächsten Generation ihre Geschichte: Hier haben sie sich kennengelernt, der angehende Diplom-Ingenieur aus Deutschland und die Krankenschwester aus Großbritannien, beide waren auf Studienfahrt. Sie verliebten sich, heirateten. Und kamen wieder. Irgendwann begannen sie, ihre eigene Vergangenheit zu durchleuchten. "Wir waren beide stumm, als wir entdeckten, was wir nicht glauben konnten: An der Stelle, an der unsere Liebe begann, waren Jahrzehnte zuvor unsere Großväter gestorben. Und der Bruder des einen. Alle drei kamen hier ums Leben. Jeder im Giftgas des anderen", erzählt Gerhard mit einer Stimme, die eine Spur fester erscheinen soll, als sie es ist. "An dem Tag haben wir verstanden, dass wir etwas weitertragen." Die Namen ihrer Kinder - es sind die Namen der Gefallenen aus der eigenen Familie.

130 000 deutsche Soldaten sind bei Ypern gefallen, 200 000 aus dem Commonwealth, das unter Führung Großbritanniens hier versuchte, das Vorrücken der kaiserlichen Truppen zu stoppen. Es gelang ihnen, vier Jahre lang war dieser Ort die Hölle - für beide Seiten. Am Donnerstag werden die 28 Staats- und Regierungschefs der EU nach Ypern kommen, um dort der Schrecken zu gedenken. "Die gesamte Region hat furchtbar gelitten", sagt Bürgermeister Jan Durnez. "Wir wollen allen, die in diesem Jahr kommen, mit auf den Weg geben, dass man aus den Fehlern der Vergangenheit lernen kann und zusammenarbeiten muss."

Ypern ist ein Ort, der seinen Schrecken auch 100 Jahre nach den Ereignissen des Großen Krieges, wie der Erste Weltkrieg in Belgien genannt wird, nicht verloren hat. Noch immer finden Landwirte beim Umpflügen der Felder menschliche Überreste und Ausrüstungsgegenstände. Die Freiwillige Feuerwehr bläst an jedem Abend um 20 Uhr einen Zapfenstreich zur Erinnerung an die Toten - seit nunmehr 100 Jahren. Und wer zeigen will, dass er in das Gedenken einstimmt, der erwirbt eine der roten "Poppys" aus Papier, jene roten Mohnblumen, die am Revers getragen werden. Wenn der Sommer kommt und die Felder in der Wallonie und Flandern von den blutroten Blumen verfärbt werden, kehren die Seelen der Gefallenen zurück, sagt eine Legende.

An diesem Juni-Morgen erscheinen die Felder tiefrot. Dabei hat Belgien durchaus Probleme mit dem Gedenken. Das damals neutrale Land geriet eher zufällig in das Visier der kriegstreibenden Politiker in Berlin. "Das hier ist Belgien ", soll ein Zollposten am 4. August 1914 den vorbeimarschierenden deutschen Soldaten zugerufen haben, weil er gar nicht glauben wollte, dass das Infanterieregiment aus dem benachbarten Aachen bei Gemmenich die deutsch-niederländisch-belgische Grenze überquerte. Berlin stellte völkerrechtliche Bedenken zurück und entschied sich, Frankreich im Handstreich zu nehmen, um mit den gleichen Truppen dann an der Ostfront weiterzukämpfen. Belgien sollte nur ein Durchmarschland werden. Doch es kam anders.

Obwohl der Hohenzoller Wilhelm II. mit dem belgischen Monarchen Albert I. verwandt war, bekämpfte man sich. Es kam zu blutigen Massakern an Zivilisten. Zuerst fiel Lüttich. Battice, Herve und Visé wurden in Schutt und Asche gelegt - über 5000 Menschen aus der Zivilbevölkerung ließen ihr Leben. In Dinant wurden 674 Männer, Frauen, Alte und Kinder bei Massenexekutionen getötet. In Löwen brachten die Deutschen an einem Tag 200 Einwohner um und verwüsteten die Universitätsbibliothek. Doch bei Ypern fraß sich der Vormarsch fest. Wochen-, ja monatelang ging nichts vorwärts. Bis die Deutschen ihre neue "Wunderwaffe" einsetzten, die Professor Fritz Haber entwickelt hatte: Chlorgas. Mitte 1915 waren auch die Briten so weit und schlugen mit Gas zurück. Das große Sterben begann auf beiden Seiten.

Der Krieg habe das Selbstbild Belgiens "radikal verändert", sagt heute die Historikerin Laurence van Ypersele von der Universität Löwen. Nach dem Ende der Schlachten am 11. November 1918 habe man sich von den Alliierten "verhöhnt" gefühlt. Wegen der Neutralität des Landes seien "nur" etwa 50 000 Soldaten gefallen. Deshalb gedenke man sehr viel mehr der Opfer unter der Zivilbevölkerung. "Es klang, als wolle man den Belgiern ihre Trauer und ihr Märtyrertum streitig machen." Tatsächlich versteht man sich bis heute als Märtyrerland, die damals vom Kriegsterror heimgesuchten Kommunen nennen sich "Märtyrergemeinden". Der Tag des Kriegsendes wird in dem Benelux-Land als Feiertag begangen, der höher eingeschätzt wird als das Ende des Zweiten Weltkriegs.

Das Land hat sich in den zurückliegenden Jahren regelrecht gerüstet, um aus dem Gedenken seinen Profit zu ziehen. Man rechnet mit vielen zehntausend Touristen, die die alten Schauplätze besuchen wollen - zum Beispiel Mons , wo am 21. August 1914 mit John Paar der erste britische Soldat gefallen ist und mit George Elision am 11. November 1918 auch der letzte. "Cegesoma" heißt ein Projekt in dieser Stadt, wo die Wechselwirkung zwischen Krieg und Zivilbevölkerung aufgearbeitet wird. Das klingt selbstverständlicher, als es ist: Mons beherbergt heute auch das militärische Hauptquartier der Nato .

Es ist still zwischen den weißen Kreuzen, den Grabplatten und den Mohnblüten bei Ypern. Eine bedrückende Atmosphäre, um die dennoch viele fürchten. Belgien feiert seine Opferrolle zwischen den Mächten auf manchmal eigene Weise, die nicht jeder verstehen mag. Noch während der Vorbereitungen für das Treffen der Staats- und Regierungschefs auf den Schlachtfeldern von einst rüstet man sich nämlich für das nächste Jubiläum: 2015 begeht das Land die Erinnerung an den 200. Jahrestag der Schlacht von Waterloo. Fast zehntausend Laiendarsteller in historischen Kostümen werden die Vernichtung der napoleonischen Truppen nachspielen. Militär-Folklore? Oder betroffenes Schweigen? Die fünfköpfige deutsch-britische Familie aus der Bundesrepublik hat ihren Weg offenbar gefunden. Irgendwann am späten Nachmittag reist sie wieder ab. Selbst der Jüngste trägt eine kleine "Poppy" aus Papier in der Hand. Und er hat verstanden, was sie bedeutet. Auch für ihn.

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