Kanzlerin will Brüssel noch mehr Rechte geben

Brüssel. Um die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Mitgliedstaaten zu stärken, ist Bundeskanzlerin Angela Merkel bereit, der Gemeinschaft noch weitgehendere Kompetenzen einzuräumen

Brüssel. Um die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Mitgliedstaaten zu stärken, ist Bundeskanzlerin Angela Merkel bereit, der Gemeinschaft noch weitgehendere Kompetenzen einzuräumen. In einer europapolitischen Grundsatzrede sagte sie gestern vor dem EU-Parlament in Brüssel, eine "stärkere wirtschaftspolitische Koordinierung wird unter Umständen auch dort erforderlich sein, wo Kernbereiche nationaler Souveränität berührt sind".Konkret nannte sie die Arbeitsmarkt- und die Steuerpolitik. Dabei müsse man aber "sensibel vorgehen" und "selbstverständlich den Gestaltungsspielraum der nationalen Parlamente erhalten". Der Europäischen Kommission will die deutsche Regierungschefin deutlich mehr "Durchgriffsrechte auch auf die Haushalte der Mitgliedstaaten erlauben", sollten die bisher getroffenen Vereinbarungen für eine gemeinsame Finanzpolitik "Raus aus den Schulden" nicht genügend beachtet werden.

Wenige Tage vor dem mit Spannung erwarteten Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs über den künftigen Finanzrahmen der Gemeinschaft Ende November war Merkel die erste, die das Gespräch mit den Volksvertretern der 27 Mitgliedstaaten suchte. Sie sprach sich dafür aus, bei der Aufstellung der mittelfristigen Finanzplanung für die Jahre 2014 bis 2020 darauf zu achten, dass "jeder Euro Wirkung für Beschäftigung und Wachstum" haben müsse.

Die Union solle gerade mit Blick auf die von der Schuldenkrise betroffenen Länder alles tun, um dort die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen und "das Unternehmertum zu fördern". Wachstum entstehe nämlich allein durch das "Engagement privater Investoren". Merkel: "Man kann Wachstum nicht politisch verordnen."

Sie wisse, so sagte die Kanzlerin vor den Abgeordneten in Brüssel weiter, dass viele Maßnahmen "von den Menschen in den überschuldeten Staaten große Opfer" verlangten. "Aber ich habe auch eine gute Nachricht", fügte sie hinzu. "Die Reformen zeigen erste Erfolge." So seien die Lohnstückkosten in Portugal, Irland, Spanien "und auch in Griechenland" bereits deutlich gesunken. Sie versicherte den betroffenen Ländern, dass die "Solidarität der Partner nicht nachlassen" werde.

Deutschland sei bereit, "alles zu tun, damit Europa die Krise überwindet". Deshalb werde es auch keine Spaltung zwischen den 17 Euro-Mitgliedstaaten und den übrigen zehn EU-Ländern geben. Vor diesem Hintergrund sei es nötig, dass beim Gipfeltreffen im Dezember "ehrgeizige Beschlüsse gefasst" würden, um die "Gründungsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion" zu beseitigen.

Den Europa-Abgeordneten sagte sie zu, dass das Parlament dabei "als Partner" einbezogen werde. Sie sprach sich dafür aus, Entscheidungen, die lediglich den Euro-Raum betreffen, nur von den Parlamentariern der Währungsunion abstimmen zu lassen. Forderungen nach einer eigenen Volksvertretung für die Euro-Zone erteilte Merkel eine deutliche Absage.

Foto: Hoslet/dpa

Meinung

Merkels Experiment

Von SZ-KorrespondentDetlef Drewes

Mit Experimenten, so hat die Bundeskanzlerin vor den EU-Abgeordneten in Brüssel selbst bestätigt, kennt sie sich aus. Wenn eine Versuchsanordnung nicht zum gewünschten Ergebnis führe, müsse man die einzelnen Komponenten so lange verändern, bis der Test erfolgreich verläuft. Gestern hat die deutsche Regierungschefin ihren wohl größten europäischen Versuch gestartet. Nicht nur in Finanz- und Wirtschaftsfragen will sie Brüssel künftig mehr Kompetenzen geben, sondern auch in Kernbereichen der nationalen Souveränität - wie Arbeitsmarkt und Steuerpolitik. Merkel weiß, dass sie mit diesen Überlegungen viel Widerspruch ernten wird. Klugerweise hat sie gleichzeitig gemahnt, den Gestaltungsraum der nationalen Parlamente nicht anzutasten. Wie das gehen soll, ist offen. Richtig ist aber, dass alles Gerede über eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit nur dann funktioniert, wenn auch die Sozialpolitik einbezogen wird. Man muss sie ja nicht vergemeinschaften, wohl aber koordinieren.