"Syrien droht zu zerfallen“

Berlin · Außenexperte van Aken besuchte das Bürgerkriegsland Wie weiter in Syrien? Der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Jan van Aken, hat das Bürgerkriegsland vor wenigen Tagen als erster Bundestagsabgeordneter besucht. Über seine Eindrücke sprach der 52jährige stellvertretende Parteivorsitzende mit unserem Berliner Korrespondenten Stefan Vetter:

Herr van Aken, wie gefährlich war Ihr Aufenthalt in Syrien?
Jan van Aken: Richtig gefährlich war ehrlich gesagt die Reise durch den Irak, um nach Syrien zu gelangen. Nach dem Grenzübertritt fühlte ich mich paradoxerweise sicherer.

Aber in Syrien scheint mittlerweile jeder gegen jeden zu kämpfen. Haben Sie da noch einen Überblick?
Jan van Aken: Nein. Das wäre vermessen. Die vor einem Jahr noch starke Freie Syrische Armee, die der Westen mit Sympathie begleitete, existiert offenkundig nicht mehr. Und die verschiedensten islamistischen Gruppen bekämpfen sich an einem Ort, während sie anderswo gemeinsam gegen eine dritte Partei Front machen. Die Lage ist völlig unübersichtlich.

Wo waren Sie genau?
Jan van Aken: Ich war im Norden, also im überwiegend von Kurden bewohnten Gebiet. Und dort war es überraschend friedlich, obwohl die Front nur etwa vier Kilometer entfernt lag. Im Norden, wo immerhin vier Millionen Menschen leben, also etwa ein Fünftel der syrischen Bevölkerung, haben uns viele bestätigt, dass sie sich sicher fühlen und trotz eines Embargos durch die Türkei und den Irak auch einigermaßen versorgt sind. Wahr ist allerdings auch, dass dort jetzt ein groß angelegter Angriff der Islamisten droht.

Sie meinen Kräfte der Al-Kaida?
Jan van Aken: Ja, diese Kräfte wollen dort einen Gottesstaat errichten. Gerade gegen dieses von Kurden dominierte Gebiet, in dem auch Araber und Christen wohnen, formieren sich jetzt alle möglichen islamistischen Kräfte gemeinsam, obwohl sie sich in anderen Teilen Syriens gegenseitig die Köpfe einschlagen.

Woran liegt das?
Jan van Aken: Die Kurden kooperieren mit den Christen. Schon das ist den Dschihadisten ein Dorn im Auge. Außerdem gibt es zum Beispiel viele Frauen bei der Polizei, was sich auch nicht gerade mit dem Weltbild von Al Kaida verträgt.

Droht ein Zerfall Syriens?
Jan van Aken: Zweifellos ja. Es gibt Gebiete, die vom Diktator Assad kontrolliert werden, andere von Al Kaida und im Norden eben von den Kurden. Wobei diese stets betonen, den syrischen Gesamtstaat erhalten zu wollen, aber mit einer Teilautonomie. Da könnte eine Keimzelle für ein neues, multiethnisches Syrien entstehen.

Was heißt das konkret?
Jan van Aken: Im Norden ist man dabei, eine eigene Verwaltung aufzubauen. Da wurde ein so genannter Hoher Rat gebildet, in dem die ganze Bandbreite an politischen Parteien vertreten ist. Sogar Wahlen werden jetzt vorbereitet. Schon deshalb muss der Westen darauf drängen, das Embargo gegen den Norden zu beenden.

Wie kam es überhaupt dazu?
Jan van Aken: Die Türkei will mit dem Embargo verhindern, dass dort ein Kurdenstaat entsteht.

Lässt sich der Konflikt überhaupt noch lösen?
Jan van Aken: Das Wichtigste ist ein Waffenstillstand. Und dann sollte die Weltgemeinschaft gerade dem demokratisch orientierten Norden helfen, zumal er auch eine Vorbildfunktion für die anderen Landesteile Syriens hat. Teilautonome Gebiete wie schon im Irak. Das wäre auch für Syrien eine Lösung.

Wie könnte Syrien in einem Jahr aussehen?
Jan van Aken: Ich befürchte, dass weder Bürgerkrieg noch Terror bis dahin beendet sein werden. Ich hoffe aber auf erste Anzeichen eines neuen, demokratischen Staates.

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