Erdogan verliert die GeduldMinisterin fordert Hilfe für Türkei

Kilis. Mehr als 100 000 Syrer sind bereits vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land in die Türkei geflohen. Der Platz in den Lagern wird allmählich knapp. Die Türkei ächzt unter dem anhaltenden Flüchtlingszustrom. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sieht deshalb auch die internationale Gemeinschaft in der Pflicht, bei der Versorgung zu helfen

Kilis. Mehr als 100 000 Syrer sind bereits vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land in die Türkei geflohen. Der Platz in den Lagern wird allmählich knapp. Die Türkei ächzt unter dem anhaltenden Flüchtlingszustrom. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sieht deshalb auch die internationale Gemeinschaft in der Pflicht, bei der Versorgung zu helfen. "Die Türkei leistet wirklich Enormes", sagte sie gestern bei einem Besuch in einem Lager im türkischen Grenzgebiet in Kilis. Im Moment sei das Land in der Lage, mit dem Flüchtlingsstrom fertig zu werden. Es sei aber klar, dass die EU und die internationale Gemeinschaft Unterstützung liefern müssten.Auch die Türken haben den Wunsch nach mehr internationaler Hilfe schon mehrfach geäußert. Bei seinem Besuch in Berlin hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zum Konflikt im Nachbarland und der damit verbundenen Flüchtlingskrise gesagt, die Türkei brauche "unbedingt die Unterstützung und den Beistand Deutschlands". Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte, die Bundesregierung habe "Unterstützung humanitärer Art" angeboten. Bislang wurden mehr als 50 Millionen Euro für humanitäre Hilfe bereitgestellt. Kurzfristig finanziert die Regierung nun ein Nothilfeprojekt in der Türkei, um die Flüchtlinge dort besser durch den Winter zu bringen. Dafür gebe es mehr als 200 000 Euro, kündigte die Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger in Kilis an. Die Hilfsgüter sollen in den nächsten Tagen ankommen. dpa/afp

Berlin. Recep Tayyip Erdogan ist ein wichtiger Mann. So wichtig, dass seine Fahrzeugkolonne besonders lang, die Schar der Leibwächter besonders groß, die Absperrung auf seinem Weg durch Berlin besonders weiträumig sein muss. So viel Verkehrschaos war selten. Unübersehbar demonstriert der Mann aus Ankara Stolz und Selbstbewusstsein. Außenpolitisch mag in den vergangenen Monaten manches schief gelaufen sein - das Drama in Syrien, die komplizierten Beziehungen zum Iran, Krach mit Israel. Aber die türkische Wirtschaft boomt, Erdogans Regierungspartei AKP ist so stärker denn je. Da sieht der Regierungschef keinen Anlass, als Bittsteller aufzutreten, um den lange angestrebten EU-Beitritt vielleicht doch voranzubringen.

Viel lieber erlaubt er sich, seinen Gastgebern eine kleine Lektion zu erteilen über die Ursachen der Euro-Krise und deren Lösung. "Die Krise muss so schnell wie möglich überwunden werden", mahnt er, der "Sumpf der Schulden" müsse endlich austrocknen. Und die Türkei habe Rezepte dafür - und Geld, sagt Erdogan am Dienstagabend bei einer Rede vor Wirtschaftsführern und Politikern. Ein Wachstum von 8,5 Prozent, 115 Milliarden Dollar Währungsreserven, die Neuverschuldung nur bei 1,5 Prozent: "Die Maastricht-Kriterien können wir einhalten - im Gegensatz zu vielen anderen", sagt Erdogan. Sein Land werde keine Belastung für die EU sein, im Gegenteil: "Wir kommen, um Last zu übernehmen", betont er. Unter den Gästen ist auch Alt-Kanzler Gerhard Schröder. "Mein Freund, der Bundeskanzler", sagt Erdogan.

Kanzlerin im Dilemma

"Meine Freundin, die Kanzlerin" sagt er nicht, als er am Mittwoch mit Angela Merkel (CDU) vor der Presse steht. Es gibt nicht viel zu berichten, jedenfalls keine Bewegung in der Beitrittsfrage. Draußen demonstrieren Tausende gegen den Gast aus Ankara. "Erdogan ist der Feind der Aleviten", steht auf einem Transparent. Die Rechte der Minderheiten in der Türkei sind oft Anlass zu internationaler Kritik. Erdogan weist dies zurück, auch diesmal.

Merkel steckt beim Thema Türkei in einem Dilemma. Einerseits muss sie als deutsche Regierungschefin die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei "ergebnisoffen" führen. Andererseits hat sie ihre Partei im Nacken, die Ankara keinesfalls als Vollmitglied in der EU haben will und die den Türken allenfalls eine "privilegierte Partnerschaft" zugesteht.

Merkel kann diesen Spagat sogar erklären. "Als ich Bundeskanzlerin wurde, da war die Haltung meiner Partei schon dieselbe wie heute", sagt sie. Dennoch seien die Beitrittsverhandlungen eröffnet worden. "Wir haben den Brauch, den richtigen Brauch, dass wir das, was einmal vereinbart worden ist, beim Wechsel der Regierungen auch fortsetzen." Deshalb führe Deutschland die Verhandlungen weiter. Das sei die Politik der Bundesregierung, "unbeschadet der Tatsache", dass die Frage einer Vollmitgliedschaft der Türkei in der CDU anders gesehen werde. "Es ist eine Frage, in der wir nicht übereinstimmen. Damit haben wir aber gelernt zu leben und gute Beziehungen aufzubauen", so Merkel.

Kandidat seit 1999

Doch sowohl die Kanzlerin als auch Erdogan wissen, dass unter den derzeitigen Voraussetzungen an einen EU-Beitritt der Türkei nicht zu denken ist. Ankara hat schon seit 1999 Kandidatenstatus. Zu Beginn der Verhandlungen sah die Sache anders aus. Als der Kanzler Gerhard Schröder hieß, konnte die Türkei noch hoffen. Beispiellose Verbrüderungsszenen spielten sich ab. Als der scheidende Regierungschef Schröder 2005 in Istanbul auftrat, würdigten ihn die 2000 Gäste mit tosendem Beifall. Schröder sei "einer der herausragenden Staatsmänner Europas", sagte Erdogan.

Inzwischen hat sich das Verhältnis geändert. Und Erdogan verliert allmählich die Geduld. In Berlin nannte er das Jahr 2023 als späteste Frist für einen EU-Beitritt seines Landes. Er hoffe nicht, dass Europa die Türkei "so lange hinhalten" werde, sagte Erdogan nach Angaben seiner Partei AKP am Dienstagabend. "Wenn sie versuchen, uns bis dahin hinzuhalten, dann wird die EU verlieren, zumindest werden sie die Türkei verlieren."

Meinung

CDU muss umdenken

Von SZ-KorrespondentWerner Kolhoff

Der türkische Premier Erdogan hat in Berlin eine deutliche Botschaft hinterlassen: Sein Land wird sich nicht ewig hinhalten lassen, ob es EU-Mitglied werden darf. Eine Entscheidung bis 2023 ist nicht zu viel verlangt. Dann wird es 60 Jahre her sein, dass eine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt wurde.

Die Türkei hat sich zur stärksten politischen und wirtschaftlichen Macht am Mittelmeer entwickelt. Sie übernimmt Verantwortung, wie sich im Syrien-Konflikt zeigt. Und im Innern macht das Land Fortschritte zu mehr Demokratie, Rechtsstaat und Toleranz. Längst ist nicht alles in Ordnung, nicht mit den Kurden, mit Zypern oder der religiösen Toleranz. Aber dafür gibt es die Verhandlungen - und die müssen ernsthaft geführt werden. Denn die zentrale Frage lautet: Gelingt es, dieses große islamische Land in Europa zu integrieren und für lange Zeit im Sinne westlicher, demokratischer Gesellschaften zu stabilisieren? Oder lässt man es abdriften in eine unkalkulierbare Zukunft? Angela Merkel sollte ein Umdenken der CDU einleiten. Es wäre eine außenpolitische Großtat für den Kontinent und darüber hinaus.

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