Insel mit Lebensgefühl Auf Formentera ticken die Uhren langsamer

Sant Francesc de Formentera · Die Balearen-Insel Formentera ist mit 83 Quadratkilometern klein, für viele Urlauber ist sie dennoch das Größte. Schon bei der Anreise ist alles anders. Nach Formentera geht es nur auf dem Seeweg.

 Ausblick vom Wanderweg Cami de sa Pujada auf der spanischen Insel Formentera. Die kleine Balearen-Insel zieht Urlauber mit ihrer Langsamkeit an. Einer der Bewohner bezeichnet seine Heimat als „liebenswert rückständig“.

Ausblick vom Wanderweg Cami de sa Pujada auf der spanischen Insel Formentera. Die kleine Balearen-Insel zieht Urlauber mit ihrer Langsamkeit an. Einer der Bewohner bezeichnet seine Heimat als „liebenswert rückständig“.

Foto: dpa-tmn/Andreas Drouve

Nach dem Ablegen in Ibizas Hauptstadt Eivissa verschwimmen im Rücken die Häusermassen, Hafencafés und Hotelkästen. Eine halbe Stunde braucht die Fähre, um Urlauber in eine andere Welt zu überführen.

Robert Rosselló schaut sich die Passagiere dann genau an. „Bereits auf dem Schiff fällt der Stress ab. Der Ausdruck im Gesicht der Leute ändert sich. Sie sind plötzlich locker, lächeln“, sagt der 48 Jahre alte Hoteldirektor. „Ganz langsam gehen sie mit ihrem Gepäck von Bord. Der Rhythmus ändert sich. So geht es mir auch.“

Rosselló weiß, wovon er spricht, wenn er das 83 Quadratkilometer kleine Formentera mit dem 30mal größeren Mallorca vergleicht. In der Saison zwischen Mai und Oktober leitet er ein schickes Haus an der Nordostküste Formenteras.

Den Rest des Jahres lebt er mit der Familie in seiner Heimat Mallorca. „Dort hast du zwar mit Palma de Mallorca eine Stadt. Du hast viele Restaurants, Einkaufscenter, eine Traumbucht wie Alcúdia. Aber es gibt viele Leute, viele Autos, Huperei, Ampeln“, sagt der Spanier. „Hier auf Formentera haben wir keine einzige Ampel.“

Es ist derselbe Archipel, dieselbe Luft, dieselbe Mittelmeerflora – doch alles ist anders als auf Mallorca. Was es auf Formentera nicht gibt, sind Highlife, Autobahn, Golfplatz und Berge. Und ebenso wenig Zeugnisse der Kultur, die es ansatzweise mit der Kathedrale Palmas sowie den Museen und Klöstern Mallorcas aufnehmen könnten.

„Doch das, was wir haben, ist mehr wert als das, was wir nicht haben“, findet Mathematik- und Physiklehrer Santiago Jiménez. Der 43-Jährige unterrichtet an Formenteras einziger Sekundarschule und begründete kurz vor der Pandemie die Astronomische Vereinigung der Insel. Nun hat sich die Corona-Lage entspannt.

Jiménez trifft sich am Abend mit Freunden zur Himmelsbeobachtung an der alten Windmühle beim Dorf El Pilar de la Mola. Zwei Teleskope haben die Hobbyastronomen aufgebaut, einen Klapptisch und Stühle. „Hier sieht man oft die Milchstraße, Venus, Jupiter, Mars, Saturn.“

Die geringen Entfernungen sind typisch für Formentera, beliebte Transportmittel Vespa und Rad. 70 Kilometer Küste bieten herrliche Strände: Ses Illetes und Llevant an der Nordspitze, Es Pujols im Nordosten, Cala Saona im Westen, Migjorn an der Südflanke.

Fluch und Segen zugleich ist das Neptungras, Posidonia oceanica, das untermeerische Wiesen bildet. Die Anschwemmungen an den Stränden müffeln, sind aber Indikatoren für gesunde Gewässer: sie sorgen für Sauerstoffzufuhr, fördern die Selbstreinigung des Meeres und bieten Fischen Schutz und Laichstätten.

Eine Inselkoryphäe in Sachen Neptungras ist die 35-jährige Meeresbiologin Daisee Aguilera. Vor Jahren begann sie damit, Skipper von Jachten dazu anzuhalten, nur über dem Sand die Anker zu werfen und niemals über den ökologisch wertvollen Neptungraswiesen.

Wer auf Schnorcheltour geht, schwebt schwerelos über dem Grün am Meeresgrund, wo sich die Neptungräser hin- und herwiegen. Zur maritimen Lebensgemeinschaft zählen schwarze Schwämme, Seeigel, Seesterne, Tintenfische und Zackenbarsche.

Für die Touristen wird das Neptungras an den Stränden entfernt. Es lässt sich zur Anreicherung der Böden in der Landwirtschaft nutzen.

Umweltexpertin Aguilera hat in den Salinen der Insel eine steigende Population an Flamingos ausgemacht und erzählt von denkbaren Zukunftsprojekten wie einem Salzmuseum und der Vermarktung von Salzsprays. Den Salzgärten Mallorcas und den dortigen Spitzenprodukten dürfte Formentera allerdings nie das Wasser reichen.

Für die Wanderwege gilt das ebenso. Auf Mallorca füllen sie ganze Reiseprogramme und Bücher, auf Formentera eine magere Broschüre.

Klassiker ist der Camí de sa Pujada, ein historischer Trampelpfad, der vom Küstendorf Es Caló de Sant Agustí durch Wäldchen aus Aleppo-Kiefern auf die Hochebene La Mola führt.

 Ekki Hoffmann

Ekki Hoffmann

Foto: dpa-tmn/Andreas Drouve

Ein wenig chaotisch ist die Beschilderung des Wanderweges, der im Nordwesten beim Picknickareal Can Marroig zum historischen Küstenwachtturm Gavina startet.

Was Formentera wie Mallorca bietet, sind Begegnungen mit kauzigen Typen. Der gebürtige Bremer Ekki Hoffmann, 68, lebt seit drei Jahrzehnten auf der 11 000-Einwohner-Insel. Mit Pferdeschwanz, Ohrring und legerem Outfit sieht er aus wie ein Alt-
hippie, ist aber keiner. „Hippies haben keine Firmen“, stellt er klar.

Einst arbeitete Ekki Hoffmann in Deutschland als Elektroingenieur, auf Formentera gibt er in seiner Werkstatt in Sant Ferran de ses Roques dreiwöchige Gitarrenbaukurse. „Wir schmeißen den Klangkörper aus Holz für zehn Minuten ins Meer. So kommt der balearische Sound in die Gitarre.“

Das Formentera-Feeling umreißt Hoffmann so: „Der allgemeine Trend von ‚alles moderner, alles größer’ geht an der Insel vorbei.“ Das könne man „liebenswert rückständig“ nennen.

 Belén Palerm

Belén Palerm

Foto: dpa-tmn/Andreas Drouve

Das Preisniveau der Hotels und Restaurants ist jedoch alles andere als rückständig, ein günstiger Urlaub auf Formentera unmöglich.

Kulinarisches Unikat auf Formentera ist der Trockenfisch (peix sec). „Dazu verwenden wir nur Rochen“, sagt Belén Palerm, die mit ihrem Mann David, einem Fischer, die Tradition aufrechterhält.

Mindestens vier Tage trocknen die auseinander geschnittenen Fischstreifen auf Leinen in einem Glashaus, das daheim im Hof steht. Danach legt sie Palerm in Gläsern mit Olivenöl ein, beliefert kleine Läden und Restaurants.

Die Fähre legt ab. Adiós Formentera. Etwas Wehmut schwingt mit. Wird man Formentera das nächste Mal so unverfälscht vorfinden, wie man es jetzt erlebt hat?

(dpa)
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