Bertelsmann-Studie Familien haben höheres Armutsrisiko als gedacht

Gütersloh · Die Einkommensnot für Familien steigt mit jedem Kind deutlich, sagt eine neue Studie. Die Politik sei gefordert.

 Vor allem Familien mit vielen Kindern und Alleinerziehende sind häufiger armutsgefährdet als gedacht. Die Politik muss mehr tun, fordern Experten.

Vor allem Familien mit vielen Kindern und Alleinerziehende sind häufiger armutsgefährdet als gedacht. Die Politik muss mehr tun, fordern Experten.

Foto: dpa/Christian Charisius

Die Entscheidung für Familienzuwachs ist nicht zuletzt eine finanzielle Frage: Denn das Armutsrisiko von Familien erhöht sich mit jedem weiteren Kind, wie aus einer gestern veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung hervor geht. Danach war 2015 rund jedes achte Paar (13 Prozent) mit einem Kind armutsgefährdet, rund jedes sechste Paar mit zwei Kindern (16 Prozent) und fast jedes fünfte (18 Prozent) mit drei Kindern. Die Quote liege damit drei Prozentpunkte über den bisherigen Werten. Als arm gelten Haushalte, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt. Die Studie beruht auf Zahlen des Statistischen Bundesamts und des Sozio-ökonomischen Panels.

Das Armutsrisiko von Familien sei damit deutlich höher, als bislang angenommen, so die Forscher der Ruhr-Universität Bochum, die die Studie erstellt haben. Sie kritisieren die in der Armutsforschung weit verbreitete OECD-Methodik – und setzen auf eine neue Berechnungsart. Eine Folge der bisherigen Methodik sei, dass arme Haushalte systematisch reicher gerechnet werden als sie sind, und reiche Haushalte systematisch ärmer, sagte Bertelsmann-Expertin Antje Funcke.

Ein Beispiel: Die Studie geht davon aus, dass 68 Prozent der Alleinerziehenden 2015 armutsgefährdet waren – nach der OECD-Methodik sind es mit 46 Prozent deutlich weniger. Zudem habe sich von 1991 bis 2015 die Einkommensschere zwischen wohlhabenden und armen Familien viel stärker auseinander entwickelt als bislang angenommen. Die Forscher fordern, nun ein größeres Gewicht auf die Bekämpfung von Armut zu legen.

Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD) sagte in Reaktion auf die Studie: „Kinderarmut ist eines der drängendsten Probleme in unserem Land.“ In den Koalitionsgesprächen habe man bereits ein milliardenschweres Paket zur Bekämpfung von Kinderarmut durchsetzen können. Von der Opposition kommt Kritik an diesen Maßnahmen: Mit der Erhöhung von Kindergeld und Kinderfreibetrag sei es nicht getan, sagte Katrin Göring-Eckardt, Fraktionschefin der Grünen. Die nächste Bundesregierung müsse beherzt gegen Kinderarmut vorgehen. Ähnlich äußerte sich die Linke. Das Kinderhilfswerk forderte ein Bundeskinderteilhabegesetz, das Kindern und Heranwachsenden aus Familien in prekären Lebenslagen einen Rechtsanspruch auf Förderung und Teilhabe gibt.

Die neue Bertelsmann-Studie kommt zu anderen Zahlen im Vergleich zu bisherigen Studien, weil sie die sogenannten Äquivalenzskalen anders berechnet. Die Skalen benutzen Forscher, um verschieden große Haushalte miteinander vergleichen zu können. Eine Familie mit vier Personen hat demnach gegenüber einem Single zum Beispiel den Vorteil, dass sie nicht vier Esstische für den gleichen Wohnkomfort braucht. Dadurch hat die Familie finanzielle Einsparungen, welche die Äquivalenzskalen berücksichtigen. Die Forscher der Ruhr-Universität rechnen nun zusätzlich das verfügbare Haushaltseinkommen ein.

Der Ruf nach einer neuen Methodik ist nicht unumstritten: Die Diskussion werde seit den 90er Jahren geführt, sagte OECD-Experte Michael Förster. Sie wieder aufzunehmen, sei ein Rückschritt. Es brauche die OECD-Skala, um Ländervergleiche zu ermöglichen. Der Trend der Bertelsmann-Studie sei aber sicherlich richtig, „wir kommen im Detail nur zu anderen Ergebnissen“.

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